Man mag sich die jahrelange Arbeit nicht vorstellen, die die Herausgeber des neuen »Oxford Handbook of Latin Palaeography« gemeinsam mit zahlreichen Autorinnen und Autoren geleistet haben. Danken möchte man ihnen dafür umso mehr. Schon das Inhaltsverzeichnis mit seinen 63 Beiträgen macht deutlich, um was für ein Unterfangen es sich handelt. Es ist nicht möglich, auch nur einen Bruchteil der Ergebnisse hier vorzustellen, sodass Schwerpunkte gesetzt werden müssen.

Der Band ist in fünf Teile gegliedert, die die Ankündigung der Vorbemerkung umsetzen, eine »integral palaeography« zu bieten – also nicht nur die klassische Schriftgeschichte in den Blick zu nehmen, sondern den gesamten Kontext der Buchproduktion. Der erste Teil, der ca. die Hälfte des tausendseitigen Bands umfasst, widmet sich zunächst der Schriftgeschichte. Besonders hervorzuheben ist, dass – im Unterschied zu älteren Handbüchern – die spätantiken Schriften nicht nur im Prolog zu finden sind, sondern ein eigenes Kapitel erhalten haben. Überhaupt haben es sich die Herausgeber zur Aufgabe gemacht, bisher weniger beachtete Schriften ausführlich zu behandeln. Während viele Beiträge eher knappgehalten sind, erhält die westgotische Schrift nahezu doppelt so viel Raum wie die meisten anderen Artikel. Sehr erfreulich ist auch, dass der karolingischen Minuskel eine dreifache Binnendifferenzierung zuteilwird und sie so nicht als Monolith erscheint, sondern als diversen räumlichen und zeitlichen Veränderungen unterworfene Schriftfamilie. David Ganz listet hier systematisch fast alle frühkarolingischen Schreibzentren in Frankreich und Deutschland mit ihren jeweiligen Schriftcharakteristika auf; etwas auf der Strecke bleiben hingegen die konkreten Kontexte der Entstehung der karolingischen Minuskel. Dies bietet wiederum Simona Gavinelli für die frühe italienische Carolina.

Den gotischen Schriften wird großer Raum gegeben, der auch Platz für geographische Differenzierung lässt, die über den westeuropäischen Fokus der älteren Paläographie hinausgeht und zum Beispiel einen Beitrag zur gotischen Schrift in Ungarn enthält. Den Abschnitt zu gotischen Schriften eröffnet allerdings ein einführender Beitrag von Albert Derolez, der die Generationen von Proseminaren verwirrende Frage der Nomenklatur gotischer Schriften aufgreift und von nun an als Referenz dazu gelesen werden kann. Zugleich bietet er eine Metadiskussion über Sinn und Unsinn von Nomenklatursystemen in der Paläographie.

Teil II entfernt sich von den Schriften und wendet sich der materiellen Form von Handschriften zu, deren Produktion, Mise-en-page und Formaten. Auch stellt dieser Teil Arbeitstechniken vor und bietet zwei Beiträge zu neueren Forschungsrichtungen, wie der Anwendung quantitativer Methoden in der Buchgeschichte oder der vergleichenden Kodikologie. Hier hätte sich ein Beitrag zur stetig an Bedeutung gewinnenden Erforschung der Fragmentenüberlieferung angeboten.

Teil III greift in vier Beiträgen den kulturellen Kontext der Buchproduktion auf, die Schreiber und den Buchhandel, während Teil IV dies fortsetzt und ausgewählte mittelalterliche Skriptorien und Bibliotheken vorstellt. Diese Auswahl ist natürlich exemplarisch und reicht von Lindisfarne über Sankt Gallen bis Monte Cassino. Als Referenz zum Einstieg in die Arbeit kann wiederum der Überblicksaufsatz von Donatella Nebbiai dienen, der in einem Parforceritt durch das gesamte Mittelalter die wichtigen Fragen zur Skriptorien- und Bibliotheksgeschichte abhandelt und diese – soweit im knappen Umfang möglich – auch in gesellschaftliche Entwicklungen einordnet. Der fünfte und letzte Teil, »Varieties of Book Usage«, versammelt in sich sehr unterschiedliche Themen und umfasst Artikel zu verschiedenen Handschriftentypen (Rechtshandschriften, Stundenbücher, theologische Schriften) und zum Umgang mit Texten in Form von Glossen.

Der Band schließt mit einem Aufsatz zur Geschichte von Handschriften nach 1500 sowie einem Beitrag zur Handschriftenkatalogisierung, der ihr als Leitfaden dienen soll. Erschlossen wird er durch einen Handschriften- sowie ein Sach- und Personenindex. Hervorzuheben sind die Abbildungen, die die Ausführungen stets nachvollziehbar machen und sicherlich auch für die Lehre geeignet sein werden.

Es ist natürlich müßig zu bemängeln, was ein solches Buch alles nicht gemacht hat, aber noch hätte machen können. Insofern sind die folgenden Punkte nicht als Kritik zu verstehen, sondern eher als Hinweis an potenzielle Lesende, die beim Lesen des Titels noch andere Punkte erwartet haben – so wie auch der Rezensent. Die Herausgeber haben sich dafür entschieden, das mittelalterliche Buch in den Mittelpunkt zu stellen, dessen Produktion und Nutzung, wobei sie an vielen Stellen weit über die eigentliche Schriftgeschichte hinausgehen. Diese Entscheidung hat zur Konsequenz, dass andere Themen lateinischer Paläographie nicht oder nur kaum berücksichtigt werden. Dokumentarisches Schriftgut sucht man, bis auf einen etwas aus dem Kontext fallenden kurzen Artikel zu Urkundenformaten von Olivier Guyotjeannin, vergeblich, ebenso die Entwicklung lateinischer Schriften der Neuzeit. Einen verständlichen Grund für die Auslassung von Kanzleischriftgut liefert Derolez in seiner Systematisierung der gotischen Schriften: »Since chanceries are accustomed to developing individual forms for the documents they issue in order to assure their authenticity, the number of different formal documentary scripts to be found in Europe is too large to be brought into a system« (S. 304).

Der Band wird für alle angesprochenen Themen erste Anlaufstelle sein. Nicht alle Beiträge werden (und können) für sich allein ausreichend zur Bearbeitung eines spezifischen Themas sein; man findet in ihnen jedoch eine Einführung und Wegweiser zu weiterführenden Arbeiten. Das Ziel der Herausgeber ist somit voll und ganz erreicht. Ihnen ist zu gratulieren und zu danken.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Robert Friedrich, Rezension von/compte rendu de: Frank T. Coulson, Robert Gary Babcock (ed.), The Oxford Handbook of Latin Palaeography, New York, NY (Oxford University Press) 2020, XXII–1052 p. (Oxford Handbooks), ISBN 978-0-19-533694-8, GBP 125,00., in: Francia-Recensio 2021/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85041