Am Anfang stand ein Forschungsprojekt zu den volkssprachlichen Aspekten mittelalterlicher Urkunden, das 2014 von Francesca Tinti an der Universität des Baskenlandes (Vitoria-Gasteiz, Spanien) lanciert wurde. Im Rahmen dieses Projekts haben mehrere Treffen in Leeds und anderswo stattgefunden. Zwölf Beiträge aus diesen Workshops, vermehrt um eine grundlegende Einleitung und einen Epilog, haben den Weg in den anzuzeigenden Band gefunden, der wohl nicht zufällig im Untertitel eine Anspielung auf das vieldiskutierte und wegbereitende Buch von Rosamond McKitterick enthält, in welchem sie neue Beobachtungen zur Mehrsprachigkeit und zum Stand der Schriftlichkeit in der Karolingerzeit vorgestellt hatte1.

Das Buch, das getrost als Meilenstein bezeichnet werden darf, setzt den Fokus mit drei Ausnahmen ganz auf die urkundliche Überlieferung vom 8. bis zum 13. Jahrhundert, die aus den verschiedensten Blickwinkeln untersucht und auf ihre volkssprachlichen Elemente sowie deren Tragweite überprüft wird. Der Kreis der zwölf Autorinnen und Autoren bildet ein europaweites Interesse an der Frage nach der Sprache der Urkunden und den Folgerungen, die sich daraus ziehen lassen, ab. Fünf von ihnen sind Philologen. So lässt sich in verschiedenen räumlichen Kontexten der Übergang vom Miteinander des Latein und der Volkssprache, die in den Ortsnamen oder rechtlichen Fachbegriffen, manchmal auch in Form deutlich romanisierter Passagen des lateinischen Urkundentexts vorkommt, hin zu überwiegend oder vollständig nichtlateinisch geschriebenen und wohl auch konzipierten Urkunden oder Güterverzeichnissen beobachten; dabei kann die Chronologie dieser Prozesse freilich stark voneinander abweichen. Bekanntlich zeigt die altenglische Überlieferung über die Übersetzungsleistung hinausgehende Texte früher als auf dem Kontinent.

Im ersten Kapitel, das mehr als eine Einführung bietet, gibt Francesca Tinti einen exzellenten Überblick über die sprachliche Situation im frühmittelalterlichen Europa. Dabei resümiert und korrigiert sie die alte Lehre, dass dank Hrabanus Maurus (†856) die volkssprachliche Literatur im Frankenreich besonders gediehen sei. Sie zeigt zugleich, dass die Abkehr von der Idee einer Sprachgrenze immer noch neu für manchen Historiker ist und wie das Konzept der Diglossie durch den Multilingualism ersetzt wurde. Erwartungsgemäß begründet sie, wieso die urkundliche Überlieferung für die Frage nach der gesprochenen Sprache so wichtig ist, und weist darauf hin, dass die in den letzten Jahren vorgenommene Neubewertung der Urkunden in England und dem Ostfrankenreich den Abstand relativiert, sodass England nicht mehr als die große Ausnahme in der volkssprachlichen Schriftkultur gelten kann. Ergänzend zu diesen Beobachtungen liest sich der Beitrag von Rosamond McKitterick, die einen Rückblick auf die Arbeiten zu »Charters, Languages, and Communication« mit reichen Literaturnachweisen gibt und ihre These erneuert, dass die lateinische Sprache für die Eliten als »element of cohesion in a highly diverse world« zu verstehen ist (S. 22), der Zugang zur Schriftlichkeit jedoch nicht nur einer kleinen klerikalen Elite vorbehalten war.

Im Anschluss daran zeichnet Wolfgang Haubrichs mit diversen (Text-)Belegen souverän die zweisprachige (Vor-)Geschichte (!) des Karolingerreichs nach. Er beobachtet hierbei zwei sprachliche Integrationsprozesse im Frühmittelalter: die jahrhundertelange Romanisierung lateinischsprachiger Randgebiete des Römerreichs mit der Integration germanischsprachiger Immigranten, zugleich aber auch die Germanisierung lateinischsprachiger Randgebiete, die romanische Inseln absorbierten. Solange Multilingualism in den Kontaktzonen selbstverständlich war, schlug er sich nicht in Texten nieder; erst ab dem 8. Jahrhundert wird er schwächer und damit für die Forschung greifbar und interessant.

In einem weiteren Beitrag widmet sich Bernhard Zeller, einer der besten Kenner des frühmittelalterlichen Sankt Galler Urkundenbestandes, der Suche nach Spuren des Übergangs vom Latein zum gesprochenen Romanisch. Etwa 50 der über 800 im Stiftsarchiv erhaltenen Urkunden vor dem Jahr 1000 kommen aus dem schweizerischen Teil Rätiens, das im Frühmittelalter stärker auf Gallien ausgerichtet war; einige der Urkunden bilden Unterschiede in Schrift, Sprache und den verwendeten formulae ab und dokumentieren somit die nicht nur sprachlich unterschiedlichen Traditionen in der Alemannia und in Rätien. Der rätische Hintergrund der Urkunden(-schreiber) äußert sich nicht nur in romanischen Orts- und Personennamen, sondern etwa auch in romanisierten Formen lateinischer Wörter und im Satzbau. Damit ist die alte Frage angesprochen, ob das nicht-klassische Latein der (überwiegend) merowingerzeitlichen Urkunden und anderer Texte mit stark abnehmenden Sprachkenntnissen zu erklären ist oder schlicht eine Dokumentation des sich vulgarisierenden gesprochenen Lateins darstellt, was der aktuellen Einschätzung der Forschung entspricht (vgl. die Arbeiten von Michel Banniard, Roger Wright oder, gerade im Bereich der Urkunden, von Martin Glessgen)2. McKitterick hatte allerdings schon 1989 auf die besondere sprachliche Situation Sankt Gallens hingewiesen, die eine Entscheidung zugunsten der gesprochenen Sprache oder zulasten der Sprachkenntnisse eines nichtromanischen Schreibers schwierig mache. Zeller nuanciert hier und verweist zum einen auf die Auswirkungen der bekannten karolingischen Reformen, die sich im Latein klösterlicher Schreiber beobachten lassen, nicht aber bei den von ihm nachgewiesenen nicht-monastischen lokalen Schreibern, die im Laufe des 9. Jahrhunderts offenbar verschwinden. Zum anderen sieht er bei den Urkunden mit rätischem Kontext kaum Veränderungen im Lateingebrauch zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert, was er mit der Hypothese eines bewussten Verharrens aufgrund der romanischen Adressaten der Urkunden erklärt.

Annina Seiler vergleicht die unterschiedlichen Schreibweisen nach volkssprachlichem Usus oder in latinisierter Form in den frühen angelsächsischen Urkunden mit dem Phänomen des code-switching der gesprochenen Sprache und liest dies als möglichen Ausdruck sozialer Abstufung. In den Sankt Galler Urkunden finde dies seine – allerdings deutlich weniger prononcierte – Entsprechung in den stilistischen oder orthografischen Unterschieden zwischen Vorakt und endgültiger Form der Urkunde. Auch Edward Roberts und Francesca Tinti nutzen das Konzept des code-switching im Sinne einer Kompetenz der Sprecher, zwischen zwei Ebenen derselben Sprache wechseln zu können, und finden es im bewussten Einsatz von Altenglisch oder dem Fränkisch des Ostfrankenreichs in Urkunden des 8. und 9. Jahrhunderts dokumentiert, was wiederum in Anlehnung an Walter Pohl als »marker of social disctinction« (S. 218) gewertet wird.

Anhand zweier kurzer Güterverzeichnisse des 10. Jahrhunderts aus Essen und Werden beleuchtet Stefan Esders die Schwierigkeiten bei der Analyse dieser äußerst seltenen Quellengattung in der Volkssprache (Abdruck mit englischer Übersetzung S. 382, 391). Mit dem bedeutenderen »Freckenhorster Heberegister« (11. Jahrhundert) sind diese altsächsischen Listen oder Register die einzigen bekannten Beispiele im deutschen Sprachraum, was Esders aber nicht mit dem eingeführten Argument kultureller und sprachlicher Eigenheiten der Ruhrregion im Frühmittelalter erklärt, sondern durch Fragen nach Mitüberlieferung und Funktion der Texte. Das Schlüsselwort ist hier die Kommunikationssituation, die er etwa für die Essener Heberolle im wiederkehrenden Kontakt der Pröpstin mit den wohl lateinunkundigen Hofverwaltern des Essener Stifts einerseits und den Bierbrauern andererseits, für die die Abgaben der neun genannten Höfe des Registers bestimmt waren, sieht. Mit einer weit ausholenden skrupulösen Analyse der mitüberlieferten sogenannten altsächsischen Allerheiligenpredigt und der altsächsisch glossierten Predigten Gregors des Großen kann er die Etablierung des Allerheiligenfestes in Essen als Funktionszusammenhang für die drei so unterschiedlichen in der Handschrift vereinigten Texte glaubhaft machen: volkssprachig glossierte Predigtmuster, ein volkssprachiger Text zur Rechtfertigung und Preisung dieses vergleichsweise neuen Festtags sowie eben das Güterverzeichnis mit expliziter Fälligkeit der Abgaben zum »Fest unserer Herren« (te usero herino misso) werden hier für den angemessenen Ablauf des Allerheiligenfestes zur Verfügung gestellt.

In einer Untersuchung der Dorsalvermerke angelsächsischer Urkunden können Robert Gallagher und Kate Wiles eine Standardisierung beobachten, die kurz vor Mitte des 10. Jahrhunderts einsetzt, auch wenn sie im Vergleich zur Archivierungspraxis in Sankt Gallen rudimentär wirke und auch keine Vorakte bekannt seien. Hilfswissenschaftliches Instrumentar kommt auch in Beiträgen zum Gebrauch von Formeln in den altenglischen writs, einer Art königlicher Erlasse (Albert Fenton), oder zur Volkssprache im Kontext pragmatischer Schriftlichkeit bei Urkunden und auf Münzen zum Einsatz, wobei letztere keine gesicherten Schlüsse auf den Grad der Literalität in der angelsächsischen Gesellschaft erlauben (Rory Naismith). Auch eine Gruppe wenig bekannter, mitunter nur zufällig überlieferter lateinischer und altenglischer Gebrauchstexte und Inschriften aus verschiedensten Zusammenhängen kann unter die Oberbegriffe Verwaltung und commemoratio gefasst werden (Kathryn A. Lowe). Hier wie auch im Beitrag von St. Esders ist somit der seltene Fall eines volkssprachigen Güterverzeichnisses dokumentiert. Weitere Beiträge behandeln Elemente der Zweisprachigkeit in norditalischen Urkunden (Marco Stoffella) oder in Grenzbeschreibungen aus dem frühmittelalterlichen Cornwall (Charles Insley).

Am Ende des Bandes spannt Janet Nelson einen umfassenden Bogen vom Forschungsüberblick und der Bestimmung des Standortes der Beschäftigung mit der Sprache der Urkunden aus historiografischer und philologischer Perspektive über die Vorstellung der je untersuchten Corpora aus Urkunden und Listen bis hin zu gar nicht marginalen Aspekten von Dorsalnotizen oder Münzen, die zu mitunter überraschenden Erkenntnissen über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der insularen und kontinentalen Überlieferung des frühen und hohen Mittelalters führen.

Das Buch ist in jeder Hinsicht sorgfältig und ansprechend gemacht und vereinigt große mit weniger bekannten Namen. Sechs Karten, zahlreiche Grafiken, Tabellen und in der Regel farbige Abbildungen der behandelten Urkunden sowie ein Register der Orts- und Personennamen – jedoch kein gemeinsames Literaturverzeichnis – tragen zur guten Benutzbarkeit des kollektiven Werkes bei: dass dies vielfach und mit Gewinn geschehen wird, darf mit Sicherheit angenommen werden.

2 Zur damaligen Situation der Forschung siehe Marc van Uytfanghe, Histoire du Latin, protohistoire des langues romanes et histoire de la communication. À propos d’un recueil d’études, et avec quelques observations préliminaires sur le débat intellectuel entre pensée structurale et pensée historique, in: Francia 11 (1983), S. 579–613; vgl. aktueller James Adams, Nigel Vincent (Hg.), Early and Late Latin. Continuity or Change? Cambridge 2016.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jens Schneider, Rezension von/compte rendu de: Robert Gallagher, Edward Roberts, Francesca Tinti (ed.), The Languages of Early Medieval Charters. Latin, Germanic Vernaculars, and the Written Word, Leiden (Brill Academic Publishers) 2021, XVI–548 p., 7 maps, 23 fig., 9 tabl. (Brill's Series on the Early Middle Ages. Continuation of the Transformation of the Roman World, 27), ISBN 978-90-04-42811-9, EUR 134,00., in: Francia-Recensio 2021/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85044