Bei der zu rezensierenden Publikation handelt es sich um den zweiten von insgesamt sechs Bänden, die unter dem Reihentitel »Historiography and Identity« im Rahmen der vom österreichischen Wissenschaftsfond geförderten Forschungsgruppe »Visions of Community« (2011–2019) entstanden sind. Ziel war, methodisch die Funktionen von Identität in der post-römischen Geschichtsschreibung zu ergründen. Der von Gerda Heydemann und Helmut Reimitz herausgegebene Band II umfasst neben Danksagung, Einleitung und Index insgesamt elf Aufsätze. Die von Reimitz verfasste Einleitung (S. 1–26) sowie ein erster Beitrag von Walter Pohl (S. 27–70) führen in das Thema ein. Es folgen vier Beiträge mit Bezug auf Italien (S. 71–146 und 319–351), jeweils zwei mit Fokus auf Iberien (S. 237–298), die iro-britannischen Inseln (S. 147–160 und 297–318) und die fränkischen Welt (S. 161–236). Der Band zeigt damit geografisch ein breites Panorama auf. Eine Schlussfolgerung, welche die Ergebnisse der einzelnen Beträge nochmals hätte bündeln können, fehlt; es finden sich aber entsprechende Ansätze in den beiden einführenden Beiträgen.
Ziel dieses Aufsatzbandes ist, die sozio-politischen Funktionen von Geschichtsschreibung in den verschiedenen Regionen des nachrömerzeitlichen Europa zu untersuchen und dabei vor dem jeweiligen historischen Kontext zu fragen, wie mit vorhandenen politischen, ethnischen und religiösen Identitätsmodellen umgegangen wurde. Die beiden einführenden Beiträge liefern hierzu sowohl forschungsgeschichtlich als auch methodisch eine gute Basis, wozu auch einige nötige Wiederholungen von Bekanntem wie dem Hinweis auf die Vielschichtigkeit jedweder Identität gehören. Reimitz vermerkt, dass die im Band untersuchten Quellen das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer an ein post-römisches Zeitalter angepasste Historiographie bezeugen. Damit verbunden sei ein kontinuierliches Experimentieren mit neuen und alten Modellen, mit dem Ziel, die Position der eigenen Gesellschaft im historischen Kontext zu reflektieren. Pohl unterstreicht nochmals, dass die Bezeichnung »Volksgeschichte«, die den ethnischen Charakter dieser Historien unreflektiert voraussetze, überholt sei, nicht zuletzt da Bedeutung und Konzeption ethnischer Identität(en) einem steten Wandel unterzogen seien. Es folgt eine Diskussion zum Umgang mit frühmittelalterlicher Identität und Ethnizität in der älteren und jüngeren Geschichtsschreibung, wobei insbesondere auf die Bedeutung der Diskurstheorie von Michel Foucault, den Literary Turn sowie die Konzeption der Ethnogenese eingegangen wird. Hierbei spricht sich Pohl für die Aufgabe einer binären Aufteilung zwischen Römern und »Germanen« aus und nutzt gleichzeitig die Gelegenheit, eigene Standpunkte nochmals zu verdeutlichen.
Ich werde den Band im Folgenden beispielhaft anhand der vier Untersuchungen zu Italien diskutieren. Drei davon befassen sich mit den beiden Werken des in Konstantinopel schreibenden Goten Jordanes. Vor dem Hintergrund der unter Justinian verstärkten Verbindung zwischen Imperium und Christentum konzentriert sich Maya Maskarinec auf die Romana (S. 71–94) und fragt, wie Jordanes vorherrschende imperiale Ideologien und christliche Wertvorstellungen miteinander vereinte. Eroberung und Recht erweisen sich als die zwei Pfeiler imperialer Herrschaft, welche die zivilisierte von der barbarischen Welt trennten; ein Muster, das er mit der politisch-religiösen Landschaft seiner eigenen Zeit vereinte, indem er diese auch auf die Vergangenheit projizierte.
Randolph Ford wendet sich anschließend Jordanes’ »Getica« zu (S. 95–120) und zeigt auf, dass hier sehr unterschiedliche Überlieferungen mit Bezug auf Skythen, Geten und Goten zu einem Narrativ einer gemeinsamen gotischen Identität vereint wurden. Hierzu schwächte Jordanes augenscheinliche Unterschiede ab und attestierte den Goten gleichzeitig eine graduelle kulturelle Annäherung an die griechisch-römische Welt.
Philipp Dörler nimmt die beiden Werke des Jordanes in den Blick (S. 121–146), indem er nach der Beziehung zwischen Römern und Germanen fragt, wobei er zugleich darauf hinweist, dass der Autor im Grunde beiden Gruppen angehörte. Aus Sicht des Autors hätten sich gotische und römische Identitäten auch nicht gegenseitig ausgeschlossen. Tatsächlich habe Jordanes beide Gruppen als gleichwertig, wenn auch unterschiedlich, dargestellt, d. h. die Grenzen zwischen beiden wurden verwischt, aber nicht aufgelöst. Der Autor habe damit weder eine rein pro-gotische noch eine pro-römische Position eingenommen. Indem er einen Weg aufgezeigt habe, wie auch die gotische Geschichte sowohl kulturell als auch politisch mit der griechisch-römischen Welt vereint werden könne, sei sein Werk auch für spätere Geschichtsschreiber wie Beda Venerabilis oder Paulus Diaconus wegweisend gewesen.
Der Aufsatzband wird durch einen zweiten Beitrag von Pohl abgeschlossen (S. 319–350), der sich der langobardischen Identität in der bekanntlich nur sehr lückenhaft erhaltenen Geschichtsschreibung zuwendet. Werke wie die »Kurzgeschichte« des Secundus von Trient aus dem frühen 7. Jahrhundert sind nur ansatzweise in der »Langobardengeschichte« des Paulus Diaconus überliefert. Auch Paulus integrierte Römisches und Langobardisches, zusammen mit Fränkischem, wobei für Paulus die langobardische Identität nur eine unter mehreren dargestellt habe. Auffällig sei, dass Paulus sich kaum jemals explizit zu den Langobarden zählte und sich auch nie als solchen bezeichnete. Die erste Person Plural sei vielmehr in Bezug auf Elemente wie die eigene Familie, Religion und die Könige bezogen verwendet worden. Dies sei jedoch literarische Konvention und folglich nicht überzubewerten.
Die von Pohl zusammengetragenen Belege lassen vermuten, dass Paulus sich kaum mehr (ethnisch) den »Langobarden« der Vergangenheit, sondern vorwiegend politisch dem von ihnen beherrschten Raum und Herrschaftsträgern verbunden fühlte – ein interessanter Aspekt den Pohl zwar andeutet (S. 340), aber nicht weiter vertieft. Die Annahme in seinem ersten Beitrag (S. 49), dass der Begriff rex francorum erstmals um 580 bezeugt sei (Epist. Austras. 37), wurde jüngst von Mark A. Handley mit Verweis auf eine Inschrift aus der Zeit Childeberts I. widerlegt1. Unzufriedenstellend ist in dem insgesamt sehr anregenden Band die Herangehensweise von Randolph Ford, der im Unterschied zu Philipp Dörler, der eine dominante Rolle Cassiodors in der Zusammenstellung der »Getica« für möglich hält (S. 123), die damit verbundene Problematik ignoriert, indem er dieses Werk als alleinige Leistung des Jordanes wertet (S. 95, Anm. 1). Hier wären angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass der »Gote« Jordanes wohl die Frage nach den gotischen Identitäten anders angegangen und damit gelöst haben dürfte als der »Römer« Cassiodor, begründende methodische Überlegungen zu erwarten gewesen.
Insgesamt ist festzuhalten, dass obwohl die einzelnen Beiträge sehr darum bemüht sind, der Komplexität frühmittelalterlicher Identitäten gerecht zu werden – was manchen auch durchaus gelingt –, der Tenor stellenweise immer noch sehr stark von den von Pohl angesprochenen binären Identitätsmodellen geprägt ist, deren Überwindung hier noch nicht vollzogen ist. Die einzelnen Identitätsmodelle stehen oft noch unvermischt nebeneinander; hier sind von der Forschung weitere Bemühungen gefordert, um die zeitgenössische Wahrnehmung von Identität in ihrer organischen Komplexität noch besser zu erfassen und zu begreifen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Laury Sarti, Rezension von/compte rendu de: Gerda Heydemann, Helmut Reimitz (ed.), Historiography and Identity. Vol. 2: Post-Roman Multiplicity and New Political Identities, Turnhout (Brepols) 2020, VIII–359 p. (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 27), ISBN 978-2-503-58470-6, EUR 95,00., in: Francia-Recensio 2021/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85050