Historische Definitionen sind eine knifflige Angelegenheit. Fragen wir danach, was das Interregnum ist, fällt (deutschen) Historikern – und den Schiller-Kennern – die Antwort recht leicht: »die kaiserlose, die schreckliche Zeit« vor dem Regierungsantritt Rudolfs von Habsburg (1273). Doch was, wenn wir dem Wort eine allgemeinere Bedeutung geben wollen? Was ist ein Interregnum?
Der vorliegende Sammelband, der auf eine Marburger Tagung von 2016 zurückgeht, lotet ganz unterschiedliche politische Konstellationen im Europa des 12. bis 15. Jahrhundert auf ihre Passfähigkeit für diesen Begriff aus. Eine eigentliche Definition wird zunächst nicht gegeben. Uns kann eine zeitgenössische Quelle, die im Band nur kurz erwähnt wird, eine erste Orientierung vermitteln – der berühmte Bericht Wipos zur Situation im Jahr 1024, vor der Wahl Konrads II. Der Chronist benennt hier sehr treffend charakteristische Merkmale eines Interregnums: das Abreißen dynastischer Kontinuität in der Herrschaft, die Angst vor Führungslosigkeit und Chaos, die Gefahr gewaltsamer Diadochenkämpfe, das Hervortreten von Akteuren der »zweiten Reihe«. Unter den Letzteren werden von Wipo in prononcierter Weise zwei Typen gegenübergestellt. Zum einen Geistliche, die das »Vaterland ohne Schiffbruch in den ruhigen Hafen« bringen, zum anderen »schlimme« weltliche Fürsten, die die Unordnung zum eigenen Vorteil nutzen. Die vier Leitfragen, welche die überwölbende Klammer für die Beiträge des Sammelbandes bilden (S. 10f. sowie S. 259–271), lassen Anklänge an diese zeitgenössische Analyse durchaus erkennen: 1. die akteurszentrierte Perspektive, 2. die Frage nach Praktiken von Konfliktaustragung und -lösung sowie 3. nach politischem Strukturwandel, endlich 4. die Wahrnehmungsperspektive.
Der Band versammelt neben den einleitenden und resümierenden Beiträgen der Herausgeber sowie einem Impulsbeitrag von Thomas Zotz insgesamt elf Fallstudien zum römisch-deutschen Reich (vier Studien), Polen (zwei Studien), Böhmen, Ungarn und Frankreich sowie zu kirchlichen Sedisvakanzen. Das Übergewicht Ostmitteleuropas erklärt sich leicht durch den Ausrichter der Tagung. Alle Beiträge bestechen durch den Detailreichtum, mit dem über das Geschehen und die beteiligten Akteure, über juristische und historiografische (De-)Legitimationsstrategien usw. Rechenschaft abgelegt wird. Das Resümee von Stefan Tebruck führt diese Einzelbefunde im Lichte der vier Leitfragen abschließend zu einer Synthese zusammen, die in Vorschläge zu einer genaueren Definition des Phänomens »Interregnum« einmündet.
Chronologisch im spät- und nachstaufischen Großen Interregnum angesiedelt, sind die Beiträge von Thomas Zotz, Ingrid Würth und Roman Zehetmayer. Interessant ist der Hinweis von Zotz, dass 1237 der Quellenbegriff bereits auftaucht (S. 13f.). Angesichts dessen, dass es von 1198 bis 1273 fast durchweg ein – oft konfliktreiches – Doppelkönigtum im Reich gab, wäre es meines Erachtens durchaus zu überlegen, ob wir das Große Interregnum nicht sogar noch chronologisch ausweiten sollten: eine »Phase gestörter Ordnung« (Zotz), die 75 Jahre andauerte. Würth betont in ihrem Aufsatz zu Wilhelm von Holland die Normalität seiner Königsherrschaft, die jedoch durch sein »jämmerliches Sterben« (S. 38) überschattet wurde. Der Beitrag von Zehetmayer widmet sich dem »österreichischen Interregnum« zwischen 1246 und 1276, in welchem die Interdependenz zwischen der Herrschaftskrise im Reich und im Territorium markant hervortritt. Zehetmayer analysiert freilich die reichspolitische Dimension der österreichischen Verwicklungen kaum, sondern betrachtet den Fall vor allem aus der Binnenperspektive. Ob dabei die Bedeutung der babenbergischen Erbtöchter Margarethe und Gertrud wirklich so gering zu veranschlagen ist, wie der Autor es tut (S. 52f., 56, 58), erscheint fraglich. Immerhin brachte nicht zuletzt Ottokars II. Scheidung von Margarethe (1261) seine Akzeptanz in Österreich ins Wanken. Sie war Resultat bzw. Teil komplexer diplomatischer Aktivitäten unter Beteiligung des Papstes, des Erzbischofs von Mainz und vieler anderer – hier wären noch manche Fäden eines hochkomplexen Wirkungsgefüges zusammenzuflechten. Sehr gut zeigt der Aufsatz hingegen den politischen Strukturwandel des Adels zum Landherrenstand.
Der Bedeutungsgewinn des jeweiligen regionalen Adels, der nicht nur ad hoc Partei ergriff bzw. individuelle Interessen verfolgte, sondern der sich in einem Lernprozess als ein entscheidender Kontinuitätsträger territorialer Integrität in Krisenphasen der Herrschaft emanzipierte, wird auch in weiteren Aufsätzen eindrucksvoll herausgearbeitet, so von Mario Müller am Beispiel der brandenburgischen Herrschervakanz nach dem Ende der Askanier, von Martin Wihoda für den Fall des Übergangs von den Přemysliden zu den Luxemburgern in Böhmen sowie von Andrzej Marzec und von Paul Srodecki am Beispiel zweier »Phasenübergänge« in der polnischen Königsherrschaft unter den Anjou und den Jagiellonen. In mehreren Fällen wird hierbei zugleich die Rolle von Frauen als dynastischen Kontinuitätsträgerinnen und wichtigen Akteuren herausgearbeitet.
Ein weiteres, für Interregna typisches Phänomen ist die Einmischung »fremder Mächte«. Waren dies im Großen Interregnum die Königreiche England und Kastilien, so sah sich Frankreich nach dem Aussterben der Kapetinger vor allem den Ansprüchen in weiblicher Linie verwandter englischer Könige gegenüber, die in den Hundertjährigen Krieg einmündeten (dazu Gisela Naegle). In den spätmittelalterlichen Königreichen Osteuropas war es regelrecht typisch, dass sich dort landfremde Dynastien auf dem Ticket der Verwandtschaft mit dem alten Königshaus durchsetzen konnten – so die sizilischen Anjou in Ungarn (dazu Julia Burkhardt), die ungarischen Anjou in Polen (Andrzej Marzec) und die litauischen Jagiellonen in Polen (Paul Srodecki). Dies bedeutete freilich keineswegs, dass wir dort von »Fremdherrschaften« reden können; man wird im Gegenteil wohl eher davon ausgehen können, dass auswärtige Könige auch vom einheimischen Adel allemal als noblere Nachfolgekandidaten angesehen wurden als etwaige Aufsteiger aus den eigenen Reihen. Das Spätmittelalter war in dieser Hinsicht durchaus ein spannendes Experimentierfeld von Supranationalität. Besonders interessant ist der Fall Polen-Litauen, da Litauen eine Erb-, Polen eine Wahlmonarchie war und das Beharren des polnischen Adels auf seinem Königswahlrecht Rückwirkungen auf die Stabilität der Jagiellonenherrschaft in Litauen hatte. Zu einem regelrechten »Verschlucken« eines Herrschaftsgebiets nach dem Aussterben seines Fürstenhauses kam es hingegen – jedenfalls unter den behandelten Fallbeispielen – nur einmal, nämlich im Falle Pommerellens, das vom Deutschen Orden annektiert wurde (dazu Norbert Kersken).
Zwei Beiträge widmen sich den zahlreichen und langdauernden Vakanzen des Apostolischen Stuhls im 13. und frühen 14. Jahrhundert (dazu Andreas Fischer) sowie einer Sedisvakanz im Bistum Würzburg um 1125 (Stefan Petersen). Auch wenn gerade der Aufsatz von Fischer einen hochinteressanten Aspekt der Geschichte der Römischen Kurie kenntnisreich beleuchtet und Petersen Einblicke in die Gründungsvorgänge zweier Prämonstratenserstifte auf fränkischem Boden gewährt, passen doch beide Aufsätze weniger gut in den Band, da die beschriebenen Problemlagen eben doch eher andere sind als bei einem »weltlichen« Interregnum. Zielführender für die Gesamtkonzeption des Bandes wäre es wohl gewesen, im Sinne der oben erwähnten Ausführungen von Wipo, die Rolle geistlicher Akteure während der Interregna einmal generell in den Fokus der Untersuchung zu stellen – ob sie also wirklich so besondere Ordnungsmächte bzw. an Ordnung interessierte Mächte gewesen sind.
Alles in allem versammelt der Sammelband nicht nur eine Reihe sehr guter Überblicksdarstellungen zu prominenten Herrschaftskrisen im spätmittelalterlichen (Ostmittel-)Europa, sondern liefert wichtige Bausteine und weiterführende Gedanken zu einer künftig sicherlich weiter zu führenden Diskussion über einen schillernden historischen Begriff.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Robert Gramsch-Stehfest, Rezension von/compte rendu de: Norbert Kersken, Stefan Tebruck (Hg.), Interregna im mittelalterlichen Europa. Konkurrierende Kräfte in politischen Zwischenräumen (Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung, 38), Marburg 2020, 300 S., ISBN 978-3-87969-434-1, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2021/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85051