Das deutsch-französisch-belgische Forschungsatelier, das von Tristan Martine, Jessika Nowak und Jens Schneider im April 2018 am DHI Paris und der Université Paris-Est Marne-la-Vallée ausgerichtet wurde, stand im Zeichen des internationalen Austauschs. Insbesondere jeunes chercheurs der beteiligten Länder waren dazu eingeladen, ihre Zugriffe auf das Thema »Raum, Raumbegriff und Raumerfahrung« im Mittelalter vorzustellen und miteinander zu diskutieren. Der hier zu besprechende Band versammelt die Ergebnisse dieser Tagung.
In der Einleitung, die dem Band in französischer und in deutscher Sprache vorangestellt ist, skizzieren die Herausgeberin und die Herausgeber die jeweils aus der französischen und deutschen Forschung stammenden Ansätze, welche auf den spatial turn reagierten bzw. reagieren und eröffnen damit das Panorama, in das sich die nachfolgenden Beiträge einfügen. Zunächst stellen ausgewiesene Experten einen in Frankreich und einen in Deutschland aktuellen Aspekt der Raumforschung vor: Michael Lauwers ordnet das von ihm entwickelte Schema von Polarisation und (Re-)Territorialisierung in die Forschung um die Rolle der ecclesia für die mittelalterliche Gesellschaft ein. Sein Modell wird in vielen der folgenden Beiträge aufgegriffen. Caspar Ehlers zeigt gemeinsam mit den Herausgebern Perspektiven und Möglichkeiten auf, die Konstituierung von Rechtsräumen zu erforschen.
Der erste der drei Abschnitte des Bandes ist den zeitgenössischen Modellen von Raum gewidmet. Den Anfang macht Nicolas Perreaux, der die Verwendung von 39 Begriffen, die in diplomatischen Quellen zur Strukturierung von Raum dienten, statistisch und semantisch auswertet. Während im 7.–11. Jahrhundert in der Regel neutrale oder weltlichen Herrschaftsbereichen zugeordnete Begriffe zur Lokalisierung von Gütern verwendet wurden, waren dies im 12. und 13. Jh. vornehmlich Begriffe kirchlicher Organisationsstrukturen. Felix Grollmann analysiert die Raumvorstellungen im um 906 entstandenen Sendhandbuch des Abtes Regino von Prüm. Sein Befund spiegelt wider, dass es sich dabei um eine heterogene Sammlung normativer Texte unterschiedlicher Provenienz handelt: »Polares und territoriales Raumdenken stehen nebeneinander« (S. 88). Der Aspekt Raum spielte für die verschiedenen Normen nur vereinzelt und zudem oft implizit eine Rolle. In den Konflikten um verschiedene Rechte und Besitzungen zwischen der Abtei von Maroilles und dem seigneur Nicolas d’Avesnes in der Mitte des 12. Jahrhunderts plädiert Nicolas Schroeder dafür, die Perspektive der Abhängigen beider Akteure einzunehmen und den »arts de gouverner« eine Untersuchung der »arts de désobéir« (S. 102) gegenüberzustellen. Schroeder zeigt, dass die Abhängigen viele Möglichkeiten fanden, die Konkurrenz zwischen den beiden Grundherren auszunutzen und ihre Herrschaftsstrategien zu unterlaufen. Tristan Martine argumentiert, dass die Polarisation von Herrschaft der lothringischen Laienaristokratie im 10.–11. Jahrhundert stark von den bischöflichen Herrschaften inspiriert und sogar durch diese ausgelöst wurde. Nach dem Vorbild der regelmäßig in Burgen residierenden Bischöfe entwickelten die von diesen zur Festigung ihrer Macht über den Raum eingesetzten seigneurs ihre eigenen befestigten Herrschaftssitze zu multifunktionalen Zentren. Das Aufkommen toponymischer cognomina im Niederadel lässt sich in Lothringen in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts feststellen und belegt die Bindung der seigneurs an diese Orte.
Der zweite Teil versammelt vier Fallstudien, die die Verschränkung von Laien- und Kirchenherrschaften untersuchen. So befasst sich Jérôme Beaumon mit der Einrichtung von Prioreien im Grenzraum zwischen Bretagne und Anjou durch die Abteien Marmoutier, Saint-Serge sowie Saint-Florent-du-Mont-Glonne und ihren Auswirkungen auf die im 11. und 12. Jahrhundert fluiden Grenzen der dortigen weltlichen Herrschaftsräume. Thomas Lacomme legt dar, dass das Säkularkanonikerstift Saint-Étienne in Troyes zwar ein zentraler Faktor der Territorialisierung gräflicher Herrschaft in der Champagne gewesen war, seine eigene Herrschaft jedoch keine territoriale Organisation aufwies. Die Besitzungen des Stifts erscheinen auf Basis eines Güterverzeichnisses vom Ende des 13. Jahrhunderts vielmehr als »Archipele« und ohne Verbindung untereinander. Ausgehend von der urkundlichen Überlieferung identifiziert Paul Chaffenet drei Phasen in den Beziehungen und Auseinandersetzungen zwischen der Abtei Mont-Saint-Quentin in der Diözese Noyon und den Kastellanen von Péronne. Julien Bachelier zeigt auf, dass die Mitte des 11. Jahrhunderts von den Bischöfen von Rennes in La Guerche – in unmittelbarer Nähe zu Rannée – eingerichtete Kastellanei sich zwar zu einem multifunktionalen Zentrum entwickelte, das ältere Rannée jedoch nicht als spirituellen Mittelpunkt der Region ablösen konnte.
Der Fokus der Beiträge im dritten Teil liegt auf Konflikten und Spannungen. Lisa Klocke nimmt die Integration Burgunds in das Reich Konrads II. in den Blick. König Rudolf III. baute ein Netzwerk vornehmlich geistlicher Großer auf, um sich gegenüber den burgundischen Herzogsfamilien durchsetzen zu können und den unmittelbar durch ihn kontrollierten Herrschaftsbereich zu festigen. Konrad II. griff nur bedingt auf diese Netzwerke Rudolfs zurück; eher verdeutlichte er durch die Einsetzung von Bischöfen in Basel und Lausanne seine Herrschaftsansprüche. Wie Clément de Vasselot de Régné beschreibt, führten im Poitou mehrere Konflikte zwischen verschiedenen geistlichen Institutionen und der Familie Lusignan seit dem 11. Jahrhundert zu einer zunehmenden Aufteilung der geistlichen und weltlichen Herrschaftsbereiche. Tobias P. Jansen führt aus, dass in der Zeit des Ausbaus ihres Bistums die Bischöfe von Verden eng mit der Familie der Billunger verbunden waren. Seit dem Ende des 10. Jahrhunderts rückten die Bischöfe jedoch immer weiter in die Nähe der Könige und entzogen sich so dem Einfluss der Billunger, was deren Position in Konflikten mit den Herrschern schwächte. Fernand Peloux wertet hagiografische Berichte über die Bischöfe von Mende aus und stellt sie der diplomatischen Überlieferung gegenüber. Die Hagiografie spiegelte die Entwicklung des bischöflichen Herrschaftsraums wider und diente zu seiner Legitimation.
In seinem abschließenden Beitrag ordnet Florian Mazel die vorangegangenen Aufsätze in die derzeitigen Forschungstendenzen ein und hebt gemeinsame Ergebnisse hervor, um daraus weitergehende Perspektiven abzuleiten. Ein Orts- und ein Personenregister sowie französischsprachige Abstracts runden den Band ab.
Diese gelungene Publikation zeigt, dass »Raum, Raumbegriff und Raumerfahrung« auch gut 30 Jahre nach dem spatial turn zu vielfältigen und fruchtbaren Untersuchungen anregen, wobei sich innerhalb des Bandes, aber auch innerhalb der einzelnen Beiträge ein gutes Gleichgewicht aus theoretischer Reflexion und quellennahen Fallstudien gefunden hat. Als Sahnehäubchen wären lediglich deutschsprachige Abstracts wünschenswert gewesen, die einer deutschen Leserschaft den Zugang zu der reichen und im Band stärker repräsentierten französischen Forschung erleichtern würden. Der Band ist einem Publikum aus beiden Ländern wärmstens zu empfehlen und auf eine Fortführung des ihm zugrundeliegenden Formats zu hoffen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sebastian Gensicke, Rezension von/compte rendu de: Jens Schneider, Jessika Nowak, Tristan Martine, Espaces ecclésiastiques et seigneuries laïques (IXe–XIIIe siècle) / Kirchliche Räume und weltliche Herrschaften. Définitions, modèles et conflits en zones d'interface (IXe–XIIIe siècle) / Definitionen, Modelle und Konflikte in Kontaktzonen (9.–13. Jahrhundert), Paris (Éditions de la Sorbonne) 2021, 265 p., nombr. ill., cartes, plans (Publications de la Sorbonne. Histoire ancienne et médiévale, 173), ISBN 979-10-351-0611-9, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2021/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85062