Bekanntlich ist das deutsche Wort »Geschichtswissenschaft« in andere Sprachen schwer zu übersetzen und stößt häufig auf Unverständnis. Eine »Science of History«, das könne es doch gar nicht geben! Auch im Französischen wird die Geschichte heute als »weiche« science humaine betrachtet, weit entfernt von jeder »exakten« Naturwissenschaft. Das war nicht immer so. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es auch in England oder Amerika Bestrebungen, Geschichte als »objektive« Wissenschaft zu etablieren (etwa bei James Harvey Robinson), und in Frankreich wurde von einer science de l’histoire gesprochen, ja sogar von einer histoire-science, etwa bei Henri Berr und einigen Autoren seiner »Revue de synthèse historique«. Und von dort zu den historisch-sozialwissenschaftlichen »Annales« von Marc Bloch und Lucien Febvre war es bekanntlich nicht weit. Das vorliegende Buch geht diesen und anderen aus dem Bewusstsein der meisten Historiker verdrängten Spuren erstmals nach. Vornehmlich auf der Basis von russischem Material rekonstruiert die Autorin das oder vielmehr die Projekte einer »Scientific History« vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre, ja sogar darüber hinaus: bis zu den neueren Diskussionen um die big history unseres Planeten.
Dass Russland im Mittelpunkt steht, hat zum einen damit zu tun, dass die Autorin dort ihre doppelte Ausbildung als Biochemikerin und Historikerin erhielt, zum anderen aber auch und vor allem, dass in den frühen Jahren der Sowjetunion die besondere Bereitschaft bestand, im Namen und im Rahmen des Marxismus die alten Fächergrenzen einzureißen und den Kanon der Wissenschaften selbst wissenschaftlich zu reflektieren. Traditionelle Selbstverständlichkeiten wie die Identifikation von Geschichtsschreibung mit Kunst (heute würde man sagen: mit Literatur) standen damit zur Disposition, während sozialwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden gegenüber herkömmlichen, historistisch-individualisierenden Sichtweisen den Vorzug bekamen. Während auf der einen Seite die Weltgeschichte einem marxistischen Modell unterworfen wurde, aus dem sich ein quasi vorhersehbarer »Ablauf« von Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen zu ergeben schien, wurde die Detailanalyse dem »Historischen Materialismus« anvertraut, der zum Beispiel bei Nicolai Bucharin als neue Soziologie auftrat. Besondere Bedeutung kam auch der jungen Subdisziplin »Wissenschaftsgeschichte« zu, die marxistische Historiker und sich marxistisch verstehende Naturwissenschaftler miteinander ins Gespräch brachte. Einen besonders sichtbaren Ausdruck fand diese »Synthese« auf dem – heute berühmen – Zweiten Internationalen Kongress für Wissenschafts- und Technikgeschichte, der im Juli 1931 in London stattfand und zu dem erstmals eine große sowjetische Delegation unter der persönlichen Führung von Bucharin eingeflogen wurde. Noch heute werden einige der damals vorgelegten Papiere, wie etwa die Thesen von Boris Hessen über die »Social and economic roots of Newton’s ›Principia‹«, als Klassiker der Wissenschaftsgeschichte gelesen und im Blick auf das Verhältnis von »externen« und »internen« Faktoren diskutiert. Auch Aronova stellt diesen Kongress besonders heraus, zumal er für die sowjetischen Wissenschaftler in einem schwierigen, repressiven Umfeld stattfand: 1928 hatte der erste Schauprozess stattgefunden, 1929 wurde Bucharin aus dem Politbüro ausgeschlossen, 1938 zum Tode verurteilt und erschossen. Fast alle in London anwesenden Sowjetwissenschaftler, wie etwa der berühmte Biologe und Geno-Geograph Nicolai Wawilow, Erzgegner von Trofim Lyssenko, gerieten schon bald in die Mühlen des »Großen Terrors«.
Das Projekt einer naturwissenschaftlich fundierten und selbst »wissenschaftlich« vorgehenden Geschichtsschreibung besaß zwar Anfänge im 18. Jahrhundert, wurde aber vor allem im 19. Jahrhundert von zahlreichen Gelehrten programmatisch formuliert, wobei an erster Stelle der Engländer Henry Thomas Buckle und der Franzose Louis Bourdeau zu erwähnen sind. Beide Historiker, die im vorliegenden Buch überraschenderweise nicht vorkommen, beriefen sich auf den Positivismus von Auguste Comte, der, zumindest anfangs, mit dem Ziel angetreten war, die empirischen Wissenschaften an die Stelle der Theologie zu setzen. Als »positivistisch« werden denn auch die vielfältigen Versuche betrachtet, vor allem mit statistischen Methoden eine größere Genauigkeit in der Analyse sozialgeschichtlicher Phänomene zu erzielen, während die klassische Politikgeschichte aufgrund der Einmaligkeit aller Ereignisse einer »verstehenden« Methodik den Vorzug gab. Allerdings konnten Soziologen wie Émile Durkheim zeigen, dass auch scheinbar extrem individuelle Ereignisse wie »Selbstmord« einer objektivierenden Analyse zugänglich sind, sofern man nicht bloß einzelne »Fälle« erzählen und interpretieren will. Wie die Autorin belegt, fanden solche sozialwissenschaftlichen Einsichten um und nach 1900 sowohl im »szientistischen« Westeuropa als auch in der »materialistischen« Sowjetunion (und schon vorher in Russland) eine breite Resonanz.
Der auffällige Wissenschaftsoptimismus dieser Zeit, der mit eher pessimistischen Geschichtsphilosophien kontrastiert (Spengler usw.), äußerte sich nicht nur in der Gründung zahlloser Institute und Fachzeitschriften, sondern auch in der Bildung großer internationaler Fachgesellschaften und Netzwerke, die sogar die beiden Weltkriege überlebten oder sich neu konstituieren konnten, weil es stets ein Bedürfnis nach internationaler Kommunikation gab, über alle Grenzen und Ideologien hinweg. Während die Autorin in der ersten Hälfte des Buches vor allem den vielfältigen Beziehungen zwischen östlichen und westlichen Forschern nachgeht (etwa im Bereich der botanischen Geographie, wo sie auf die Kontakte zwischen Wawilow und André Haudricourt, einem Mauss-Schüler und Mitarbeiter der »Annales« näher eingeht), liegt der Schwerpunkt im zweiten Teil des Buches bei den Nachkriegsprojekten der UNESCO, wie der großen »History of Mankind« oder den »Cahiers d’histoire mondiale«. Letztere wurden damals von Lucien Febvre aus der Taufe gehoben, und Febvre schrieb auch gemeinsam mit François Crouzet den Entwurf einer nicht-nationalen Frankreich-Geschichte für die Jugend, deren Publikation allerdings unterblieb, weil das Experiment einigen Interessengruppen in der UNESCO nicht gefiel. Dass ausgerechnet dieses ungewöhnliche Buch, das 2012 von Denis und Élisabeth Crouzet erstmals ediert wurde1, der Autorin keine Ausführungen wert ist, muss erstaunen; sie erwähnt es lediglich. Vermutlich liegt es daran, dass sie ihre Forschungen damals im Wesentlichen schon abgeschlossen hatte und ohnehin kaum französische Literatur und keine französischen Archive benutzt hat. Umso interessanter ist dann im letzten Kapitel ihre Rekonstruktion der Verbindungen zwischen sowjetischen und englischen oder amerikanischen Wissenschaftsforschern, die zum Beispiel in den 1960er Jahren zu einer engen Kooperation im Bereich der Informationstechnologie und Datenverarbeitung führten. Wer weiß heute schon, dass Eugene Garfield, der berühmte Erfinder des »science index« und der automatisierten Zitationsanalyse, die bekanntlich die Rezeption von Forschungsliteratur nachhaltig veränderte, ein ständiger institutioneller und kommerzieller Partner der sowjetischen Informatiker war und den Verkauf der ersten IBM-Computer in die UdSSR vermittelte?
Obwohl dieses Buch, das materialreich über verschiedenste Prozesse der »histoire croisée« berichtet, im geographischen Detail manchmal unausgewogen wirkt und auch in der Abfolge der Kapitel etwas sprunghaft verfährt, gelingt es ihm doch, einen äußerst interessanten Bogen vom 19. Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart zu schlagen und das Verhältnis von Geschichtswissenschaft, Naturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte in einem veränderten Licht darzustellen. Wer immer sich also an der strikten Trennung, ja Entgegensetzung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften stößt, wird es mit großem Gewinn lesen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Schöttler, Rezension von/compte rendu de: Elena Aronova, Scientific History. Experiments in History and Politics from the Bolshevik Revolution to the End of the Cold War, Chicago, London (The University of Chicago Press) 2021, X–243 p., 5 ill., ISBN 978-0-226-76138-1, USD 45,00., in: Francia-Recensio 2021/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85118