»Quand la gauche pensait la nation« ist die neueste Monographie von Jean-Numa Ducange, einem Spezialisten für die Geschichte des Sozialismus vor 1914 und insbesondere der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie. Der Autor greift ein Thema auf, das bisher von der Geschichtsschreibung gemieden wurde, obwohl zahlreiche Studien es anschneiden, insbesondere diejenigen, die sich mit der Positionierung des Sozialismus zur Frage des Krieges beschäftigt haben. In diesem Buch wird versucht, die verschiedenen Definitionen zusammenzutragen, die Sozialisten von der Nation gegeben haben. Es ist erstaunlich, dass eine solche Arbeit bisher noch nicht durchgeführt worden ist. Die Lektüre des Essays von Ducange macht aber auch deutlich, warum Forscherinnen und Forscher die Frage bisher offengelassen haben: Eine eindeutige »sozialistische« Definition der Nation ist sehr schwierig, fast unmöglich zu liefern. Ducange mobilisiert in seinem Buch eine beeindruckende Anzahl von Quellen und stützt sich sowohl auf theoretische Debatten als auch auf die verschiedenen sozialistischen Praktiken während der Untersuchungsperiode der Belle Époque.

Obwohl das Buch ein größeres geografisches Gebiet abdeckt, liegt der Schwerpunkt auf den Sozialdemokratien des deutschsprachigen Raums, weil sie die klarsten Definitionen der Nation und Ideen zur Verbindung von internationalistischer Ideologie und nationalen Realitäten formuliert haben. Das lag daran, dass sie sich in einem imperialen Raum bewegen mussten: Die Koexistenz mehrerer Nationen im deutschen Sprachraum war eine greifbare Realität und führte zwangsläufig zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit dem Thema.

Definition von Nation: Es kann keine offizielle sozialistische Definition der Nation geben, und, wie Ducange zeigt, muss dieses Konzept immer in Beziehung zum Internationalismus verstanden werden. Seit dem Kongress der Zweiten Internationale 1896 in London wurden erste Elemente einer Definition formuliert, aber jedes Land, jede nationale sozialistische Partei ging das Thema auf eigene Art und Weise und gemäß den eigenen Besonderheiten an.

Der deutschsprachige Raum ist ein besonders treffendes Beispiel, hier lassen sich drei zentrale Positionen ausmachen: Die erste, die man als »nationalistische Linke« bezeichnen kann, und die an das Denken von Ferdinand Lassalle anknüpft, verband die Erlangung der deutschen Einheit mit dem sozialistischen Projekt und mündete in den »Staatsozialismus« oder in den Nationalismus eines Engelbert Pernerstorfer. Die zweite, die mit dem »Austro-Marxismus« und den Figuren Otto Bauer und Karl Renner verbunden ist, machte die nationale Zugehörigkeit zu einer persönlichen Eigenschaft ohne territoriale Ansprüche und zu einem potenziellen Vektor der Emanzipation. Die dritte Position, der unter anderem von Rosa Luxemburg vertretene radikale Internationalismus, lehnte es ab, die Nation zu verteidigen, die allenfalls als notwendiges Stadium der kapitalistischen Entwicklung betrachtet wurde.

Die Schwerpunktsetzung auf den deutschsprachigen Raum lässt Ducange nicht vergessen, dass die Frage nach der Nation für den Sozialismus eine noch größere Dimension hatte. So förderte der Sozialismus als Ganzes eine internationalistische Lesart seiner Geschichte und versuchte, durch gemeinsame Praktiken und Gedenkfeiern in verschiedenen Länder eine einzigartige Tradition und Geschichte zu schaffen, die jedem das Gefühl gab, Teil einer einzigen internationalen Bewegung zu sein. Außerdem zeigt der Autor, dass der Sozialismus in den Jahren vor 1914 nicht nur eine Angelegenheit einiger weniger westeuropäischer Länder war. Ab 1905, als die erste sozialistische Revolution gegen alle Erwartungen außerhalb dieses geografischen Raums in Russland stattfand, wurden die Überlegungen über das Wesen des Sozialismus in außereuropäischen Ländern oder außerhalb des deutschsprachigen Raums zahlreicher und schlossen sogar Länder ein, die unter kolonialem Einfluss standen.

Projekt Großdeutschland: Ein roter Faden, der sich durch das Buch zieht, ist die sozialdemokratische Theorie eines Großdeutschlands, d. h. der Wunsch, eine Republik zu schaffen, die der deutschsprachigen Welt eine einheitliche Perspektive geben sollte. Dieses Projekt wurde zumindest von einem Teil der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie seit 1848 verteidigt. Das Scheitern der Revolution führte auch zum Scheitern dieses Projekts, das jedoch unmittelbar nach der Gründung der ersten sozialistischen Parteien und sogar noch vor der Vereinigung der SPD wiederbelebt wurde. Dass es sich nicht um ein beiläufiges Gedankenspiel handelte, unterstreicht Ducange: »Die eigentliche und große Uneinigkeit innerhalb der deutschsprachigen Linken vor der Vereinigung besteht nicht so sehr in der sozialen Frage oder gar in der Staatsfrage. Es geht um die Nation« (»La véritable et grande divergence clivant la gauche germanophone avant son unification ne porte pas tant sur la question sociale ou même sur le problème de l’État. Elle concerne la nation«, S. 31).

Nach der deutschen Vereinigung 1871 wurde diese Idee eines großdeutschen Staates aufgegeben. Der Staat des Kaiserreichs wurde nicht mehr als ein provisorisches Gebilde, sondern als legitime politische Realität angesehen. Die deutschsprachigen Arbeiterbewegungen waren nun gezwungen, sich getrennt voneinander zu strukturieren. Doch Großdeutschland blieb für viele Sozialdemokraten nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis eine relevante Vorstellung. Auch wenn sie unterschiedlichen Ländern und Parteien angehörten, gab es doch eine gewisse politisch-ideologische Einheit und konkrete Solidaritätspraktiken über die Grenzen hinweg. Nach dem Ersten Weltkrieg, dem Ende der Kaiserreiche und der Entstehung der deutschen und österreichischen Republiken gewann die Idee eines großen republikanischen Deutschlands im Denken der Sozialdemokraten sogar wieder an Kraft. Da Adolf Hitler diese Idee und den Begriff auf eine ganz andere Art und Weise und mit ganz anderen Zielen übernahm, stießen sie nach der Erfahrung des Nationalsozialismus auf breite Ablehnung.

Die Studie von Ducange liest sich mit großem Gewinn. Wie der Autor selbst anmerkt, stellt sich die Frage nach »einer Geschichtsschreibung der deutschsprachigen Länder, die nicht durch die Episode des Nationalsozialismus überdeterminiert ist« (»[…] l’écriture d’une histoire des pays germanophones qui ne soit pas surdéterminée par l’épisode du nazisme«, S. 13). Das erweist sich als schwierig, vor allem, wenn es sich um ein so sensibles Thema wie die Nation handelt, doch Ducange gelingt dies. Indem er den von ihm analysierten Zeitraum weit über den Ersten Weltkrieg hinaus ausdehnt, befreit er die Geschichte der Zweiten Internationale auch von einer teleologischen historiografischen Lesart, die auf ihr Ende und Scheitern 1914 zuläuft. Die Überlegungen des Autors ermöglichen außerdem ein tieferes Verständnis dessen, was das Jahr 1914 für den europäischen Sozialismus und sein Verhältnis zur Nation bedeutete. Schließlich öffnet die Studie auch den Blick auf umfassendere Themen wie das Verhältnis der Sozialdemokratie zur kolonialen Frage, die in Zukunft eine noch tiefere Analyse verdienen würde. Auf jeden Fall wird dieses Buch ein Standardwerk für alle werden, die sich mit der Geschichte des Sozialismus und dessen Verhältnis zur Nation beschäftigen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Elisa Marcobelli, Rezension von/compte rendu de: Jean-Numa Ducange, Quand la gauche pensait la nation. Nation, nationalités et socialismes à la Belle Époque, Paris (Fayard) 2021, 330 p. (Fayard Histoire), ISBN 978-2-213-71139-3, EUR 23,00., in: Francia-Recensio 2021/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85122