Der Sammelband geht der Frage nach, wie Ethnologie, Völkerkunde und Volkskunde im Kontext der kolonialen Eroberungen in Afrika als wissenschaftliche Disziplinen in Deutschland und Frankreich entstanden. Er schlägt dabei auf deutscher Seite einen weiten Bogen vom frühen Afrikaforscher Heinrich Barth über bekannte Figuren wie Leo Frobenius. Es wird die Geschichte mancher bedeutenden Sammlungen vorgestellt, die Rolle afrikanischer »Vermittler« bis hin zur postkolonialen Situation der Ethnologie erkundet. So wird etwa die Rolle des Institut français in der Zusammenarbeit zwischen Franzosen und Afrikanern von der Kolonialzeit bis zur Dekolonisation beleuchtet und damit insgesamt ein facettenreiches Kaleidoskop der Beziehungen zwischen wissenschaftlicher Erforschung fremder Territorien und Völker, Eroberung und Kolonisation eröffnet.

Besonders faszinierend sind die Einblicke, die nicht allein zeigen, wie stark die Wechselwirkungen zwischen Kolonialisten und Kolonisierten waren, sondern wie fragil das Fundament sein konnte, auf das die Kolonialreiche ihr Wissen über die kolonisierten Völker gründeten. Analogieschlüsse von heimischen Verhältnissen und ihrer Geschichte auf die Gegebenheiten Afrikas bis hin zu reinen Erfindungen – die Kolonisten versuchten sich auf vielerlei verschiedene Weisen einen Reim auf das zu machen, was sie sahen, hörten und erlebten. Dabei bedienten sich europäische Reisende und später die Kolonialverwaltung auch an Berichten der vorangegangenen Kolonisation von Teilen Afrikas durch Araber. So warf allein schon die Frage, welche Gruppen Afrika besiedelten, wie diese politisch organisiert waren, wie ihre Selbst- und ihre Fremdbezeichnungen lauteten, große Probleme auf. Sie wurden noch durch den Umstand potenziert, dass zwischen den vielen Sprachen und Dialekten mehrfach übersetzt werden musste, um schließlich einen Begriff in einer der europäischen Sprachen zu gewinnen. Das demonstriert der Religionshistoriker Magloire Somé aus Burkina Faso, indem er überzeugend nachzeichnet, dass es in Afrika unbeschadet der politischen Verfasstheit so etwas wie politisches Kollektivbewusstsein gab, das sich maßgeblich auf die gemeinsame Sprache gründete. Die Ethnien, so Somé, haben eine Geschichte, die nicht erst mit der Kolonisation beginnt. Mit anderen Worten: Zu behaupten, dass die Ethnien in Afrika eine Erfindung der Kolonisatoren gewesen seien, wäre nichts anderes als eine erneute europäische Selbstüberhebung in Form der Selbstanklage.

Richtig ist allerdings, dass die Auseinandersetzung der afrikanischen Völker mit den Kolonisatoren zur Schärfung des eigenen Selbstverständnisses und seiner Traditionen auf der afrikanischen Seite beigetragen hat. Das zeigt auf beeindruckende Weise der senegalesische Historiker Maguèye Kassé (Universität Cheikh Anta Diop, Dakar) am Beispiel des Gelehrten und Schriftstellers Amadou Hampaté Bâ. Als Sohn einer adligen Familie in Mali geboren, wurde er sowohl in der traditionellen Koranschule als auch im französischen Schulsystem unterrichtet. Das politische und kulturelle Bewusstsein dieser Zweiseitigkeit brachte Amadou Hampaté Bâ nicht allein dazu, im Rahmen der französischen Kolonialverwaltung als eminenter Vermittler aufzutreten, der wirklich beide Seiten kannte. Denn vor allem nahm er sich als Mitarbeiter am berühmten IFAN (Institut Français d’Afrique Noir) in Dakar der mündlichen Traditionen Westafrikas an, die er als Wissensspeicher begriff – und denen er so zu neuer Wertschätzung verhalf –, der von Generation zu Generation im Erzählen auf- und umgefüllt wurde. Dazu zählte das grundlegende psycho-soziale Konzept, dass das Leben jedes Menschen sich in neun Etappen vollziehe, die jede ihre spezielle Charakteristik besitze und im Lebensvollzug zur individuellen Erfüllung führe. Nicht unähnlich den Brüdern Grimm im neunzehnten Jahrhundert lag Amadou Hampaté Bâ daran, diese mündliche Überlieferung als etwas ganz Eigenes zu bewahren – indem er sie schriftlich aufzeichnete. In der Wiederaneignung dieser Tradition sah Amadou Hampaté Bâ die Chance zur afrikanischen Selbstbestimmung und Emanzipation. Dabei bezog er sich auf Denis Diderot und seinen Roman »Jacques le Fataliste«, der Hegel zur Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft inspirierte. Damit nahm der scharfsinnige Gelehrte eine geschickte kulturelle Aneignung zur Stärkung des politischen Selbstbewusstseins seiner Landsleute vor.

Und die akademische Disziplin der Ethnologie in Deutschland und Frankreich? Der Germanist Jean-Luis Georget (Sorbonne Nouvelle – Paris 3) weist in seinem kenntnisreichen Aufsatz auf die tiefen Unterschiede der kolonialen Annäherung zwischen den deutschen Territorien im neunzehnten Jahrhundert hin. Die Volkskunde habe sich, so Georget, nicht zuletzt in der Konkurrenz zwischen nationaler Einheit und regionaler Selbstbehauptung entwickelt. Es fand also eine Art Expedition ins Innere der deutschen Gesellschaft selbst statt, auf der man wie besessen nach Ursprüngen bestimmter kultureller Praktiken und Kultgegenständen suchte, um die historische Eigenständigkeit der in das Deutschen Reich integrierten, einst eigenständigen Fürstentümer und Königreiche nachzuweisen. Mit anderen Worten: Gerade in jener Epoche, in der in Deutschland die sog. koloniale Idee mehr und mehr Unterstützer auch in der Politik fand und die Aufmerksamkeit von Militär, Verwaltung, Wissenschaftlern und Geschäftsleuten auf Afrika lenkte, entwickelte die Wissenschaft umgekehrt auch eine neue Wertschätzung und ein neues Interesse an eigenen lokalen und regionalen Traditionen.

Es fand eine zweifacher Entdeckungsprozess mit höchst unterschiedlichen Vorzeichen statt, der in Deutschland zur Volkskunde einerseits, zur international ausgerichteten Völkerkunde andererseits führte. Die Kongo-Konferenz von 1884/1885 sei, so Georget, zugleich auch die Geburtsurkunde der deutschen Völkerkunde gewesen, die den »Platz an der Sonne« wissenschaftlich für das Deutsche Reich sichern sollte. Daran nahmen nun auch die süddeutschen Staaten teil. Die Akzentsetzung war allerdings unterschiedlich: In Bayern erhielten – zugespitzt formuliert – die Kuriosa-Kabinette eine koloniale Ergänzung, in Württemberg aber setzte man ganz darauf, möglichst wertvolle Sammlungsstücke zu erwerben und besonders eindrucksvoll und modern zu inszenieren. Beide teilten allerdings durch die besonders engen Beziehungen zu den lokalen und regionalen afrikanischen Autoritäten die Betonung des Regionalen vor einem wie auch immer gearteten Nationalen.

Richard Kuba (Frobenius-Institut, Frankfurt am Main) unterstreicht anhand der Rolle von Leo Frobenius die ganze Ambivalenz der frühen Ethnologie nicht nur in Deutschland, deren bessere Vertretern zwar die Bedeutung der künstlerischen und kulturellen Hervorbringungen Afrikas herausstellten, die zugleich aber immer noch von der Überlegenheit der »weißen Rasse« überzeugt waren und Afrika eine Art kultureller Dekadenz attestierten. Sie werteten die Vergangenheit auf, um die Gegenwart in Frage zu stellen.

Der Band enthält viele wichtige Anstöße, einen genaueren Blick auf den Zusammenhang von Wissenschaft und (Macht-)Politik in Deutschland und Frankreich im ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert zu werfen. Es lädt darüber hinaus dazu ein, die Kolonialgeschichte im deutsch-französischen Vergleich besser zu verstehen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Jeismann, Rezension von/compte rendu de: Jean-Louis Georget, Hélène Ivanoff, Richard Kuba, Construire l'ethnologie en Afrique coloniale. Politiques, collections et médiations africaines, Paris (Presses Sorbonne Nouvelle) 2020, 300 p., nombr. ill., cartes, fac-similés, ISBN 978-2-37906-037-3, EUR 19,90., in: Francia-Recensio 2021/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85123