Wenn ein hoch angesehener Zeithistoriker und langjähriger Ordinarius nach Jahren des Publizierens in den (Unruhe-)Stand des Emeritus eintritt, ist es an der Zeit zurückzublicken und Bilanz zu ziehen. So tut es auch Ulrich Herbert, Jahrgang 1951, bis 2019 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, Mitherausgeber einschlägiger Quelleneditionen, historischer Fachzeitschriften und Buchreihen. Der von ihm zusammengestellte Reader »Wer waren die Nationalsozialisten?« ist eine Anthologie bereits an anderer Stelle publizierter Forschungsbeiträge, ergänzt durch zwei bislang noch unveröffentlichte Vortragstexte.
Herberts wissenschaftliches Arbeiten ist – neben anderem – eng verknüpft mit der Aufarbeitung der Geschichte der NS-Herrschaft seit den 1980er Jahren sowie mit der Frage nach den Traditionslinien des Nationalsozialismus in die vor allem westdeutsche Bundesrepublik hinein. Schon mit dem scheinbar simplen Buchtitel trifft der Autor auch gleich ins Schwarze: Es geht um die, ungeachtet der anhaltenden Flut an Literatur, bis heute ungebrochen aktuelle, weil von jeder Generation immer wieder neu gestellte Frage: Was waren das für Menschen, die in deutschem Namen so ungeheuerliche Verbrechen verübten, und woher kam ihr offenbar grenzenloser Judenhass?
Folgt man der sehr knappen, ja skizzenhaften Einleitung, so soll es im Wesentlichen darum gehen, sich mit den verschiedenen Erklärungsansätzen des Autors über die Jahre hinweg dazu auseinanderzusetzen und dabei den Weg der historischen Forschung – gerade auch in dessen eigenen Überlegungen – nachzuverfolgen (S. 10). Tatsächlich jedoch stammen, von zwei Ausnahmen abgesehen, sämtliche Beiträge aus den letzten 15 Jahren; das Gros bilden Vorträge und Aufsätze, die sogar erst nach 2010 entstanden sind. Von einem Rückblick auf jahrzehntelange Forschung ist also nur bedingt zu sprechen. Herbert möchte uns vielmehr primär die neueren und neuesten Ergebnisse seines Arbeitens in möglichst konzentrierter Form präsentieren.
Dabei ist der Autor schon früh publizistisch besonders hervorgetreten. Seine im Jahre 1985 erschienene Dissertation »Fremdarbeiter im Dritten Reich«1 über die bei Kriegsende 1945 etwa acht bis zehn Millionen ausländischen Zwangsarbeiter in Deutschland wurde seinerzeit sofort zum absoluten Standardwerk zum Umgang mit einer der bis dahin völlig vernachlässigten »vergessenen Opfergruppen« der NS-Herrschaft. Kaum anders verhielt es sich mit seiner 1992 abgeschlossenen Habilitationsschrift über den Werdegang des SD- und Gestapo-Vordenkers Werner Best (1903–1989)2. Herberts Biographie zu dem führenden RSHA-Funktionär, die von dessen Anfängen als Völkisch-Radikaler über die Zeit bei der SS und als hoher Besatzungsoffizier in Dänemark und Frankreich bis zu den rechtsgerichteten Nachkriegsaktivitäten in der Bundesrepublik reicht, und sein hierin erstmals systematisch vorgestelltes »Täter-Generationen-Modell« wurde zur Blaupause für eine Reihe von Kollektivbiografien zu nationalsozialistischen Tätergruppen und Funktionseliten bis in die Gegenwart.
Die insgesamt elf Beiträge des Sammelbandes lassen sich grob vier Themenbereichen zuordnen: 1. Ursprung und Entwicklung von Nationalsozialismus und Antisemitismus; 2. Kontinuitätslinien zwischen NS-Zeit und Bundesrepublik (»Der deutsche Professor im Dritten Reich«, »Nachklänge der Volksgemeinschaft«, »NS-Eliten in der Bundesrepublik«); 3. Planung und Durchführung des Holocaust und 4. Systemvergleiche in Theorie (»Nationalsozialistische und stalinistische Herrschaft«) und Praxis (»Das Jahrhundert der Lager«).
Herberts primäres Anliegen, das sich durch sämtliche Beiträge des Buches zieht, zielt zum einen auf den mittlerweile auch empirisch zahlreich belegten Befund, dass erst die massenweise Zustimmung der Deutschen zu der Innen- und Außenpolitik des »Dritten Reiches« das ungeheure Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes möglich gemacht hat. Zum anderen möchte es der Autor nicht versäumen, den maßgeblichen Anteil seiner Forschungsarbeiten an dieser Neubewertung »der Unterstützung und Dynamik der nationalsozialistischen Gewaltpolitik« sichtbar zu machen – ein Befund, der, objektiv betrachtet, tatsächlich nicht von der Hand zu weisen ist.
In diesem Kontext fokussiert Herbert immer wieder die unmittelbare Beteiligung nationalsozialistischer Funktionseliten »in den Ministerien, den Universitäten und der Wehrmachtsführung«, also außerhalb des traditionellen Parteiapparats, an der Planung, Konzeption und Durchführung der Mordaktionen. Dieses mehrheitlich akademisch vorgebildete, überwiegend der »Kriegsjugendgeneration« angehörende Führungspersonal setzte – ganz im Gegensatz etwa zu den braunen Parteikadern im engeren Sinne – seine Karrieren nach 1945 auch meist unbeirrt fort. Entsprechend resultieren daraus die von Herbert konstatierten ausgeprägten personellen Kontinuitätslinien von der NS-Zeit bis weit in die alte Bundesrepublik hinein3. So wenig, wie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sozialmilieu vor dem mobilisierenden Zugriff des Regimes zu schützen vermochte, so wenig ließen sich diese gleichermaßen von ideologisch-rassistischen Motiven geleiteten wie utilitaristisch geprägten »Experten« davon abhalten, ihre besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten, vor allem seit Kriegsbeginn, einem mörderischen Regime zur Verfügung zu stellen. Und nach 1945 hinderte sie dies ebenso wenig daran, sich in ein ganz anderes, neues System erneut passgenau einzuordnen – jetzt unter demokratischen Vorzeichen.
Auch wenn hier aus Platzgründen auf Einzelbeiträge nicht näher eingegangen werden soll, so sind doch zwei Eigentümlichkeiten hervorzuheben, die den besonderen Charakter von Ulrich Herberts Arbeiten ausmachen: Gemeint ist einmal die klare, unprätentiöse Sprache, mit der es dem Autor gelingt, historische Inhalte wissenschaftlich angemessen und dennoch gut verständlich auszubreiten. Ferner ist es die (beileibe nicht jedem Universitätsgelehrten eigene) Fähigkeit, komplexe historische Zusammenhänge ebenso analytisch-distanziert und präzise wie knapp und pointiert darzustellen. Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist Herberts Beitrag »Der Weg zur Ermordung der europäischen Juden« (S. 203–225). Mit ebenso eindringlichen Worten wie klarem Urteil schafft es der Autor auf nur wenigen Seiten, die verschiedenen, in ihrem Ablauf nicht immer sofort verständlichen, ja teilweise scheinbar widersprüchlichen Etappen und Phasen des Holocausts vor allem in den Jahren 1939–1942 minutiös auf den Punkt zu bringen.
Zum Schluss aber noch einmal zurück zu der von Herbert wohl absichtlich besonders knapp gehaltenen Einleitung zu diesem Buch: Es bleibt der Eindruck, dass es dem Zeithistoriker nicht deshalb gelingt, dem Drang zu widerstehen sein eigenes wissenschaftliches Oeuvre zu historisieren, weil er dies bewusst vermeiden bzw. lieber dem Leser überlassen möchte, sondern weil die (bislang nur sehr verstreut rezipierbaren) Kernbeiträge dieses Sammelbands bereits jeweils in sich selbst als vom Autor hoch aggregierte Bilanzen seiner vielgestaltigen langjährigen Forschungsarbeit anzusehen sind; eine Leistung immerhin, zu der man ihm guten Gewissens nur gratulieren kann. Der insgesamt gelungene Band wird auch formal durch ein die Fußnoten der Textbeiträge entlastendes Literaturverzeichnis am Ende sowie durch ein Personenregister abgerundet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Hubert Roser, Rezension von/compte rendu de: Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten?, München (C. H. Beck) 2021, 303 S., ISBN 978-3-406-76898-9, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2021/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85126