Die Corona-Pandemie wird vermutlich auch das nächste Jahr prägen. Während Deutschland die »vierte Welle« der von dem Virus SARS-CoV-2 verursachten Pandemie erlebt, fürchtet man in Frankreich im Falle des erneuten Anstiegs der Infektionszahlen bereits die »fünfte Welle«. Nicht nur die durchnummerierten Infektionswellen, auch eine steigende Anzahl historischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher Analysen zur Pandemie im Besonderen und Seuchen im Allgemeinen zeigen, dass das Ereignis die Welt wohl noch eine Weile beschäftigen wird. Bereits im Jahr 2020, als die von dem Virus hervorgerufene Krankheit sich in Europa mit großer Geschwindigkeit ausbreitete, beteiligten sich Sozialwissenschaftler an den gesellschaftlichen Debatten zur Pandemie und ihrer Bekämpfung. Interviews und Essays zur historischen Einordnung und ihrer eventuellen Vergleichbarkeit mit der »Spanischen« Grippe nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, neben Diskussionen der von den nationalen Regierungen sukzessive erwogenen Pandemiemaßnahmen. Bücher zur Geschichte der Seuchen wurden um Kapitel zu Covid-19 ergänzt und eine Vielzahl neuer Studien ist seit 2020 erschienen1.
Relativ früh, nämlich noch 2020 sind die hier zu besprechenden zwei Bände erschienen. Sie stellen daher sowohl Beiträge zu einer Debatte des Forschungsgegenstandes Corona-Pandemie dar als auch zeitgenössische Reaktionen auf die Pandemie. Denn nicht nur der geringe Abstand zum Auftreten der Corona-Pandemie und die dadurch begrenzte Zeit zum Forschen und Verfassen der Beiträge, sondern auch die Deutungen aus dem Erleben der Pandemie »in Echtzeit« machen neugierig auf die in beiden Bänden behandelten Inhalte. Letztlich unterscheiden sich beide Publikationen jedoch hinsichtlich Zielsetzung und Anspruch und sind daher auch nur bedingt vergleichbar.
Der von Mitarbeitern der renommierten Pariser politik- und verwaltungswissenschaftlichen Hochschule Sciences Po herausgegebene und verfasste Band aus der Reihe »Le Monde d’aujourd’hui« greift dabei auf die im Hause verfügbare interdisziplinäre Expertise aus Politikwissenschaften, Soziologie, Ökonomik, Jura und Geschichtswissenschaften zurück. Am Anfang stand ein von den Herausgebern Marc Lazar, Guillaume Plantin und Xavier Ragot lancierter Aufruf zu Beiträgen rund um das Thema »la Covid«, wie die Krankheit in Frankreich genannt wird. Erfreulich ist hierbei, dass nicht nur etablierte Forscherinnen und Forscher, sondern auch Kolleginnen und Kollegen am Anfang ihrer Karriere mit ihren Beiträgen aufgenommen wurden. Insgesamt zwanzig Beiträge, oftmals in Teamarbeit verfasst, haben so Eingang in den Band gefunden. Dieser ist mit fast vierhundert Seiten beinahe doppelt so lang wie das hier ebenfalls besprochene Themenheft der Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft« (fortan abgekürzt als G&G). Letzteres versammelt fünfzehn Beiträge auf knapp 200 Seiten, allerdings erscheinen die Artikel in G&G wegen der unterschiedlichen Textgestaltung kürzer. Auf Grund der Fülle an Beiträgen werden im Folgenden einzelne herausgegriffen, darunter vor allem solche, die in beiden Bänden behandelte Themen zum Gegenstand haben.
Das Ziel der drei Herausgeber von Sciences Po Paris ist es, das Ereignis Covid-19 aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Dabei geht es auch darum, die Kompetenzen der Sozialwissenschaften sichtbar zu machen, mit denen diese zur Deutung der Pandemie beitragen können.
Neben ausgewiesenen Experten zu Gesundheit und Krankheit, wie dem Historiker Paul-André Rosental, der die »ersten dreißig Tage« der Seuche ländervergleichend analysiert, finden sich Spezialisten anderer Felder, die ihre Forschungsschwerpunkte mit der Pandemie in Beziehung setzen, indem sie ihre Auswirkungen untersuchen oder spezifische Aspekte herausarbeiten. Beispielsweise greift der Politologe Bruno Palier die Frage nach den Gründen für die schlechte Bezahlung »unverzichtbarer« Berufe auf, die in der Pandemie erneut offenbar wurde. Man denke nur an Kranken- und Altenpflegepersonal oder auch Personal im Verkauf, bei der Straßenreinigung und, zumindest in Frankreich, auch in Grund- und Sekundarschulen2.
Ein Schwerpunkt beider Bände liegt auf den sozialen Ungleichheiten, die die Pandemie drastisch sichtbar gemacht hat. Zwar ist es keineswegs neu, dass Seuchen hier verstärkend wirken. Allerdings zeigt gerade der französische Band mit seinen präzisen Analysen auf, inwieweit insbesondere die seuchenpolitisch notwendig gewordenen Lockdown-Maßnahmen dafür sorgten, dass sich bestehende Ungleichheiten potenzierten. An dieser Stelle sei noch einmal unterstrichen, welches Potenzial in einer – zukünftigen – vergleichenden Geschichte der Pandemiebekämpfung liegt. Ansätze hierzu liefert bereits Paul-André Rosentals Vergleich im französischen Band. Denn im Gegensatz zu Deutschland, das im Frühjahr 2020 kaum nennenswerte Einschränkungen erlebte, entschied sich die Regierung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im März desselben Jahres zu einem drastisch durchgesetzten confinement für ganz Frankreich. Ziel dieser teilweisen Lahmlegung des öffentlichen Lebens, bei der nur »essenzielle« Geschäfte geöffnet blieben, war die Entlastung des völlig überlasteten Gesundheitssystems. In den Krankenhäusern füllten sich die letzten verfügbaren Intensivbetten und das notwendige Personal wurde knapp. In den Altenheimen, aber auch den Notaufnahmen musste erwogen werden, wer bei schwerem Verlauf überhaupt noch Überlebenschancen hatte.
Gleichzeitig trugen milde Verläufe, vor allem vor dem Bekanntwerden einer Langform der Covid-Erkrankung sowie die Kontroversen um die zweifelhaften Therapieversuche des Marseiller Universitätsmediziners Didier Raoult dazu bei, massive Skepsis an der Gefährlichkeit des Virus für die französische Gesellschaft zu nähren. Den vor allem in den sozialen Netzwerken geführten Debatten gehen Manon Berriche und Kollegen nach, wobei sie ein sehr differenziertes Bild zeichnen, dank dessen klar wird, dass kritische Beiträge zur Regierung sich nur teilweise mit einer Verharmlosung der Pandemie vermischten.
Der Beitrag von Mirna Safi differenziert zwischen verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit, die einerseits die Ansteckungsrisiken unterschiedlich verteilten und andererseits das Erleben der Pandemie unterschiedlich schwierig machten. Wer wie viele nicht auf das Gehalt verzichten, gleichzeitig aber auch nicht einfach die Berufstätigkeit ins Homeoffice verlegen konnte, oder gar wie Verkaufspersonal in Lebensmittelgeschäften oder Pflegepersonal zu den »essenziellen« Berufen zählte, ging besonders in der ersten Phase der Pandemie ein erhöhtes Risiko der Ansteckung ein. Masken fehlten weitestgehend.
Das Erleben der Pandemie, insbesondere im besonders betroffenen Großraum von Paris, der Île-de-France, war maßgeblich von sozialen Faktoren bestimmt. Wer hier arm ist sah sich oftmals auf nur wenigen Quadratmetern mit Familienmitgliedern zusammengedrängt, wo sonst der öffentliche Raum Gelegenheit bietet, den durch hohe Mietpreise gekennzeichneten, oft kleinen (Vor-)Stadtwohnungen zu entkommen. Besonders Jugendliche und junge Erwachsene erlebten hier eine Form der promiscuité, eines Zusammengedrängtseins, das Konflikte stark förderte. Studierende, die ihre Ferien- und Gelegenheitsjobs wegen der Pandemie verloren, mussten zu ihren Eltern zurückziehen, wo nicht nur oft kein Raum zum Lernen zur Verfügung stand, sondern je nach Wohnort und Sozialmilieu auch die zur Distanzlehre unverzichtbare Internetverbindung fehlte.
Wie Anne Boring und ihre Mitautorinnen zeigen, bedeutete soziale Ungleichheit oftmals, dass Geschlechterungleichheiten noch einmal verstärkt wurden und Frauen in besonderem Maße während der Pandemie in alte Rollenmuster zurückgedrängt wurden und mehrfacher Belastung ausgesetzt waren. Auch die häusliche Gewalt, deren Opfer in überwältigender Anzahl Frauen sind, häufte sich in der Pandemie noch einmal mehr.
Besonders hervorzuheben ist auch der Beitrag des Soziologen Daniel Benamouzig, der hier nicht als public intellectual, sondern als einer von zwei Sozialwissenschaftlern im wissenschaftlichen »Covid-19«-Beirat des französischen Präsidenten Emmanuel Macron von seinen Erfahrungen in dem für die öffentliche Wahrnehmung des Pandemiemanagements entscheidenden Gremium berichtet. Daniel Benamouzig unterstreicht in seinem Beitrag, dass der wissenschaftliche Beirat nicht aus dem Nichts entstanden ist, und auch international keine Besonderheit darstellt. Vielmehr hat der französische Beirat seine Wurzeln in dem im Kontext von Ebola gegründeten Instrument »React«, mit dem wissenschaftliche Expertise unter Krisenbedingungen beschleunigt nutzbar gemacht werden soll. Hierdurch wird deutlich, dass Covid-19 keine genuin neue Bedrohung darstellt, wenngleich manche Aspekte die Pandemie vor allem in ihrem Management neu erscheinen lassen. Außerdem unterstreichen die bestehenden und neu gegründeten Beiräte die Rolle von wissenschaftlichen und medizinischen Beratern, deren Ratschläge von Regierenden nicht zwangsläufig berücksichtigt werden.
Marie-Laure Salles-Djelic untersucht in ihrem Beitrag zur »kollektiven Immunität« den Zusammenhang zwischen der Durchseuchungsidee und sozialdarwinistischem beziehungsweise »neoliberalem« Gedankengut am Beispiel von Akteuren wie Boris Johnson, Jair Bolsonaro und Donald Trump. Gerade inmitten der Pandemie, in der politische Vokabeln und Etiketten politische Positionen oft unzureichend verkürzen, sind solche kurzen Studien hilfreich, um Traditionslinien zu hinterfragen oder, wie im Falle von Salles-Djelics Beitrag, zu stützen. So erkennt die Autorin bei Boris Johnsons Argumentation in der Pandemie Aktualisierungen sozialdarwinistischen Denkens.
Den Zusammenhang von Pandemie und Umwelt diskutieren auf ganz unterschiedliche Weise die Beiträge der Kunsthistorikerin Laurence Bertrand Dorléac zu Greta Thunberg als Klimaaktivistin in der Coronakrise sowie Meriem Hamdi-Cherif und Kollegen zur makroökonomischen und ökologischen Bedeutung von Covid-19. Erstere untersucht die Rolle Greta Thunbergs als mediale Figur, die sich auch zu Corona positionieren muss und dabei die Autorität wissenschaftlicher Expertise betont, die sowohl für die Bekämpfung der Klimakatastrophe als auch die der Pandemie zentral ist. Die Ökonomen um Meriem Hamdi-Cherif diskutieren vier Szenarien, in denen der Einfluss von Covid-19 im Zusammenhang mit möglichen Klimaschutzmaßnahmen auf die Wirtschaftsentwicklung betrachtet wird. Die Autoren schließen aus ihren Modellrechnungen auf eine große Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen, selbst wenn diese kurzfristig negative Folgen für die Wirtschaftsentwicklung im Kontext von Covid-19 haben könnten.
Frédéric Gros schließlich bietet in seinem Beitrag nicht nur einen Überblick prominenter philosophischer Einordnungsversuchen der Pandemie, sondern darüber hinaus eine interessante Typologie zur Deutung der Vorschläge, mit Hilfe derer moderne Gesellschaften sich nach Meinung von Geistes- und Sozialwissenschaftlern wandeln sollten. Dabei unterscheidet er drei Formen, nämlich Neo-Souveränismus, Neo-Solidarismus und Neo-Kommunismus.
Zwar verfolgt das dritte Heft des Jahrgangs 2020 der Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft« (G&G) wie auch die französische Veröffentlichung den Anspruch, die Debatte um die Pandemie durch Expertise mitzuprägen. Die Autoren, allesamt Mitglieder des neunzehn Personen umfassenden Herausgebergremiums, verstehen ihre Beiträge aber eher als »wissenschaftliche[r] Essays«3. Ziel des Heftes ist es ausdrücklich nicht, historische Vergleiche zu früheren »Pandemien, Krankheitskrisen oder Katastrophen« zu ziehen, »sondern der Versuch einer Verzeitlichung der Gegenwartserfahrung«. Diese solle aus Zeitmangel jedoch »[n]icht [in Form] lange[r] Abhandlungen« erfolgen, sondern stattdessen baten die Herausgeber um »knappe und pointierte Beiträge, Probebohrungen auf unsicherem Terrain«.
Ein solches Vorhaben ist legitim, stellt doch das Publizieren in der Pandemie selbst ein teils schwieriges Unterfangen dar. Die Unmittelbarkeit der Seuchenerfahrung schränkt natürlich auch gerade das dem Historiker zur Verfügung stehende Instrumentarium stark ein.
Besonders lesenswert sind die Artikel, deren Autoren Themen mit einer gewissen Nähe zum Feld der Seuchen und Krankheiten bearbeiten. So werden beispielsweise Spezialisten der Wissenschafts- und Medizingeschichte in den Beiträgen von Christoph Conrad, Ute Frevert und Jürgen Osterhammel problemlos neue interessante Aspekte zur Pandemie entdecken. Christoph Conrad untersucht die Auswirkungen der Virus-Pandemie auf die zeitgenössischen Wohlfahrtsstaaten. Gestützt auf die sozialwissenschaftliche Literatur reflektiert er kritisch Überlegungen zu einer Expertokratie und einer Foucaultschen Biopolitik, die in dem »natürlichen Experiment« Covid-19 am Werke seien. Pointiert argumentiert Conrad, dass die in der Pandemie oft bemühte Gegenüberstellung vom Schutz des Lebens einerseits, und wirtschaftlicher Interessen andererseits, unzulässig vereinfachend ist. Stattdessen zeigt der Genfer Historiker, dass gerade der angebliche Schutz älterer Menschen vor der Pandemie oftmals fehlschlug.
Ute Freverts kurzer Beitrag behandelt pointiert verschiedene Erfahrungen von Nähe und Distanz, die die Pandemie verändert hat. Ihr Beitrag beschränkt sich dabei nicht nur auf die zu erwartende Diskussion der Maske und der Pflicht, sie im Alltag zu tragen. Sie untersucht auch das Phänomen der Zweitwohnungsbesitzer und Touristen, die im Verlauf der Pandemie die Gelegenheit nutzten, sich in klassischem Stil in die ländlichen Regionen zurückzuziehen. Der Rückzug jener sozial privilegierten Schicht aus Beamten, Unternehmern, Akademikern und gut bezahlten Angestellten spielte sich nahezu identisch in vielen Ländern ab. Aus Paris floh, neben den ohnehin mobilen Reichen, die dank Telearbeitsplatz mobile Mittelschicht an die Atlantikküste und das Mittelmeer. In seinem Beitrag zu New York im selben Band verweist Sven Beckert auf den Rückzug der Oberschicht in die Feriendomizile der amerikanischen Ostküste. Anhand der medialen Debatten um die Anwesenheit der als privilegierte Metropolenbewohner wahrgenommenen Reisenden analysiert Ute Frevert dann konzise die Neuordnungen von Fremd- und Vertrautheit während der Pandemie.
Jürgen Osterhammels Beitrag zu China als Peripherie und Zentrum der Pandemiegeschichte ist aus Sicht des Rezensenten besonders erhellend, nicht zuletzt, weil das Land eine so zentrale Rolle bei Covid-19 spielte. Die Volksrepublik musste als erstes Land die Krankheit unter Kontrolle bringen. In der historischen Langzeitperspektive Osterhammels wird deutlich, dass die in Europa oft ignorierte Erfahrung chinesischer politischer Eliten im Management von Seuchen keineswegs nur ein rezentes Phänomen seit der SARS-Epidemie ist. Sein Beitrag unterstreicht zudem den Nutzen einer komplementären Lektüre der beiden deutschen und französischen Bände. Während der Historiker Jürgen Osterhammel Überlegungen zu Raumvorstellungen in Beziehung zur Eindämmung der Pandemie setzt, geht der französische Spezialist für internationale Beziehungen Jean-Louis Rocca der Frage nach, inwieweit die Pandemie den »triumphierenden Aufstieg Chinas« unterbricht. Dabei betont er, dass in den Diskussionen um die chinesischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, eine antichinesische Rhetorik Auftrieb erhalten habe, deren Wurzeln bis in die Stereotype der Kolonialzeit reichten.
Während »Les sciences sociales au temps de la Covid« vor allem durch die Vielzahl der Perspektiven und die Bandbreite der behandelten Themen bereits jetzt einen nützlichen Einstieg in die Komplexität dieser Pandemie bietet, eröffnet das G&G-Heft wie intendiert eine wichtige Diskussion. Es bleibt zu hoffen, dass möglichst bald Historikerinnen und Historiker diese pointierten Darstellungen aufgreifen, zumal die Herausgeber selbst ihr Heft ausdrücklich als erstes einer möglichen Serie in der G&G begreifen. Zwar kommen alle seitdem erschienenen Hefte noch ohne Beiträge zu Covid-19 aus, aber da es leider wahrscheinlich ist, dass die Pandemie auch in naher Zukunft nichts von ihrer Aktualität verliert, bleibt ja noch Zeit für weitere G&G-Bände zum Thema. Aus Sicht des Medizin- und Gesundheitshistorikers wäre es wünschenswert, wenn dann noch stärker die bereits vorhandenen, umfangreichen Forschungen zu Seuchen, Krankheit und Medizin berücksichtigt würden. Während viele der hier diskutierten Beiträge dies bereits tun, überraschen andere den Leser mit Peter Baldwins zweifellos zentralem Buch »Contagion and the State« als einziger Referenz zur Geschichte der Seuchen und des darauf bezogenen staatlichen Handelns. Nur erschien das Werk bereits im Jahr 1999. Auch wenn Verzeitlichungsprozesse im Vordergrund stehen sollen, wäre es wünschenswert, zu deren Analyse rezentere Studien zu berücksichtigen4. Fruchtbar könnten auch Untersuchungen zwischen medizinisch und epidemiologisch verschiedenen Pandemien, beispielsweise zwischen der global andauernden AIDS-Epidemie und Covid-19 hinsichtlich der Verzeitlichungserfahrung sein.
Die Herausgeber um Marc Lazar haben in ihrer Einleitung zum französischen Band unterstrichen, dass Covid-19 eine in ihrer biologischen Realität zwar erwartete, in ihrer sozialen Konkretisierung jedoch »ungedachte« Pandemie war. Nicht zuletzt deshalb plädieren sie für die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Expertise zum Verstehen dieser Krisen5.
Es scheint dem Rezensenten, dass die Sozialwissenschaften, ob sie nun historisch, soziologisch, anthropologisch oder politikwissenschaftlich arbeiten, bereits heute eine große Menge an Wissen besitzen, das zum Verständnis und zur Deutung einer Pandemie wie Covid-19 von großem Nutzen sein kann. Die hier besprochenen Bände liefern eine gute Basis für die Einbeziehung und vielleicht auch die Übersetzung dieses Wissens in andere disziplinäre und nationale Kontexte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Nils Kessel, Rezension von/compte rendu de: Marc Lazar, Guillaume Plantin, Xavier Ragot, Le monde d’aujourd’hui. Les sciences sociales au temps de la Covid, Paris (Presses de Sciences Po) 2020, 384 p., ISBN 978-2-72462-670-4, EUR 25,00; Paul Nolte, Ute Frevert, Sven Reichardt (Hg.), Corona. Historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven, Göttingen (V&R) 2020, 203 S. (Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, Heft 46,3), ISBN 978-3-525-35219-9, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2021/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85131