Wiederholt äußert sich der Universalgelehrte und berühmte Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz gegenüber dem Basler Mathematiker Johann Bernoulli erfreut über die Arbeiten der beiden Scheuchzer-Brüder zur Erforschung der Alpen und der Naturgeschichte der Schweiz. Gemeint sind Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und Johannes Scheuchzer (1684–1738), beide bedeutende Pioniere der modernen naturwissenschaftlichen Alpenforschung. Während ersterer jedoch als solcher schon zu Lebzeiten sehr bekannt gewesen ist, steht sein zwölf Jahre jüngerer Bruder bis heute in seinem Schatten. Dabei sind dessen Leistungen nicht nur ebenso bedeutsam wie die des älteren Bruders. Vielmehr haben beide eng zusammengearbeitet, ihre Forschungen zur Geologie, Botanik und Tierwelt des Hochgebirges im Zentrum Europas gemeinsam durchgeführt und ihre diesbezüglichen Erkenntnisse wechselseitig ausgetauscht.

Das näher herausgearbeitet zu haben, gehört zu den Einsichten der anregenden Studie von Dunja Bulinsky über das soziale Umfeld Johann Jakob Scheuchzers. Bewusst untersucht sie das Leistungsspektrum und Arbeitspensum des Schweizer Universalgelehrten nicht als Einmann-Leistung eines »großen Gelehrten«, sondern rekonstruiert das unmittelbare Arbeitsumfeld des Zürcher Barockwissenschaftlers und arbeitet überzeugend heraus, dass seine Forschungen als kollaboratives Unternehmen anzusehen sind, als Gemeinschaftsleistung vieler, die sich unter dem Namen Johann Jakob Scheuchzers als Label oder Etikett eines wissenschaftlichen Großunterfangens fassen lassen. Dazu gehörte sowohl seine Ehefrau Susanna (geb. Vogel), seine Kinder, allen voran der ebenfalls bedeutende Johann Kaspar Scheuchzer, der in London im Auftrag Hans Sloanes Engelbert Kaempfers epochalen Japanreisebericht ins Englische übersetzte, als auch zahlreiche Schüler Scheuchzers, aber auch ortsansässige Geistliche, Bauern und Jäger, ohne deren Mithilfe Scheuchzer niemals so ein Reichtum an wissenschaftlichen Ergebnissen hätte erbringen können. Damit reiht sich die Studie ein in neuere Forschungsansätze zu wissenschaftshistorischen Kontextuntersuchungen unter dem Schlagwort »science in the making«, die ihren Fokus auf den Austausch von gelehrten und populären Wissenskulturen legen.

Dabei zeigt sich, dass Scheuchzers Arbeitsweisen und ‑praktiken par excellence einer naturhistorischen »grassroots-Gelehrsamkeit«1 (Bettina Dietz) entsprachen. Während Scheuchzer auf Reisen war, führte seine Frau in Zürich die Wetterbeobachtungen mit seinem Barometerglas durch, auf den Alpenexkursionen sammelte er Informationen über Naturphänomene aller Art von ortsansässigen Pfarrern, Milchbauern oder Gämsjägern, und »grassroot«-Erkenntnisse im buchstäblichen Sinne erhielt er auch von seinem jüngeren Bruder, der sich auf die Erforschung alpiner Gräser spezialisierte. Aus Bulinskys Dissertation erfahren wir nicht nur manches über das »Homeoffice« eines Frühaufklärers – Scheuchzer hatte in seinem Wohnhaus »zur Lerche« in Zürich tagtäglich viele Schüler um sich, aber wohl kein eigenes Arbeitszimmer –, sondern auch, dass er in seinem jüngeren Bruder einen nützlichen Assistenten sah, aber keinen ebenbürtigen Partner. Mithilfe war willkommen, aber in Sachen Ruhm und Ehre auf der internationalen wissenschaftlichen Bühne wollte der ältere Bruder doch lieber als ein klein wenig bedeutender wahrgenommen werden als sein brüderlicher Mitstreiter. Bulinskys Buch trägt damit zur vertieften Erschließung des bis heute – trotz einiger Studien der letzten Jahre und Jahrzehnte – zu weiten Teilen noch immer nur wenig erforschten immensen handschriftlichen Nachlasses von Johann Jakob Scheuchzer bei. Zu wünschen ist, dass dem Buch weitere solche vertiefenden Studien folgen werden, die einer Gesamtwürdigung Scheuchzers, oder einer umfassenden Biografie, den Weg bereiten. Immerhin liegen mittlerweile große Teile seines enorm umfangreichen Nachlasses in der Zentralbibliothek Zürich über e-manscipta.ch digitalisiert vor, flankiert von wertvollen neueren Editionen aus dem Briefwechsel, wie die von Simona Boscani Leoni, online unter hallernet.org.

1 Bettina Dietz, Aufklärung als Praxis. Naturgeschichte im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Bd. 36, Heft 2 (2009), S. 235–257.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Kempe, Rezension von/compte rendu de: Dunja Bulinsky, Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten. Johann Jakob Scheuchzer (1672‑1733) und sein soziales Umfeld, Zürich (Chronos) 2020, 191 S., 19 Abb., ISBN 978-3-0340-1561-5, EUR 48,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87426