Der von Norman Domeier und Christian Mühling herausgegebene umfangreiche Tagungsband besteht aus 17 Artikeln, einem Einleitungskapitel der Herausgeber und einem zusammenfassenden Schlusskapitel von Franz Eder. Ohne Zweifel ist er ein wertvoller und überfälliger Beitrag zur Kulturgeschichte des Hofes. In der bisherigen Hofforschung sind die Themenbereiche homosoziales Begehren und homosexuelle Praktiken, wenn nicht »geradezu tabuisiert« (so die Herausgeber, S. 10), so zumindest weitgehend ignoriert und marginalisiert worden. Dabei stellen diese Thematiken zentrale Elemente der zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechte in höfischen Gesellschaften dar. Und eben diese Beziehungsnetzwerke – das zeigen viele der hier vereinten Beiträge auf eindrückliche Weise – spielen eine wichtige Rolle für das Verständnis der Politikgeschichte und der Kulturgeschichte des Politischen, besonders in der sich um dynastische Zentren herum entwickelnden vor- und frühmodernen Staatlichkeit. Vielleicht wäre es der Kohärenz des Bandes dienlich gewesen, Beiträge in denen der Hof nur eine marginale Rolle spielt in andere Publikationen auszulagern. Allerdings ist dies bekanntlich ein für das Genre »Tagungsband« üblicher Kritikpunkt.

Das Einführungskapitel der beiden Herausgeber definiert als ein Ziel des Bandes, einen epochenübergreifenden »Austausch zwischen traditioneller Hofgeschichtsschreibung, jüngerer Patronageforschung und der politischen Kulturgeschichte der Homosexualität« (S. 18) zu initiieren. Dabei verweisen die Herausgeber gleich zu Beginn auf die Problematik des anachronistischen Gebrauchs des Konzepts der Homosexualität, welches ja erst um die Wende zum 20. Jahrhundert seinen Eingang in die allgemeine Sprache fand. Dies wiederum bedeutet, dass jede Verhaltensform die von Historikern und Historikerinnen a posteriori als homosexuell gedeutet wird, von den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen nicht so gedeutet werden konnte. Diese Problematik wird auch in den meisten folgenden Beiträgen des Bandes auf verschiedene Weisen reflektiert. Domeier und Mühling sprechen sich für eine heuristische Verwendung des Begriffes aus. Diesem Vorschlag folgt auch diese Rezension, trotz der wichtigen und sehr validen Einwände gegen die anachronistische Nutzung des Konzepts.

Eröffnet wird der Tagungsband mit einem Artikel von Heide Wunder, in welchem sie das von ihr entwickelte Forschungskonzept des Arbeitspaars auf das dynastische Herrschaftspaar anwendet und die These aufstellt, dass Homosexualität in diesem Kontext solange stillschweigend toleriert werden konnte, solange die Funktion des Arbeitspaars, besonders im Hinblick auf die Zeugung von Nachkommen, nicht eingeschränkt war. Der folgende Beitrag von Charlotte Backerra verdeutlicht an Quellenbeispielen aus den Tagebüchern von Kaiser Karl VI. die Möglichkeiten wie auch die Grenzen der Forschung, das wahrscheinlich bisexuell ausgerichtete Geschlechtsleben eines Herrschers zu analysieren.

Günter Wassilowsky widmet seinen Beitrag der Homosexualität am frühneuzeitlichen Papsthof und betont dabei zum einen die recht zurückhaltende Verfolgung von »Sodomie« im Kirchenstaat, wie auch die Tatsache, dass die Bedeutung homosexueller Neigungen für die Bildung von Patronagebeziehungen und Netzwerken in der zölibatären Wahlmonarchie bisher in der Verflechtungs­forschung unzureichend Berücksichtigung fand. Lucien Bély, der sich mit Homosexualität am Hof Ludwigs XIV. beschäftigt, hebt vor allem die sozialen Unterschiede hervor, durch die der Umgang mit mann-männlichen sexuellen Beziehungen strukturiert wurde. Julie Peakman beschäftigt sich in ihrem Artikel vor allem mit der englischen Aristokratie der Frühen Neuzeit. Auch ihr Beitrag unterstützt die These von Heide Wunder, dass Homosexualität am Hof nicht aktiv verfolgt wurde, wenn die betreffenden Personen ihren dynastischen Pflichten nachkamen. Der preußische König Friedrich II. kann nicht zuletzt auch deshalb als Ausnahmemonarch gelten, weil er es sich leisten konnte, seiner Pflicht zur dynastischen Reproduktion nicht nachzukommen. Seine Beziehungen zu männlichen Favoriten stehen im Fokus eines Beitrags von Wolfgang Burgdorf.

König Eduard II. von England gilt weithin als das Hauptbeispiel eines homosexuellen mittelalterlichen Monarchen. Djro Bilestone Roméo Kouamenan unternimmt hierzu eine kritische Neubewertung der vorhandenen Quellen und kommt zu dem Ergebnis, dass die zeitgenössische Chronistik dem Monarchen weniger »sodomitisches« Verhalten vorwarf als vielmehr die exzessive Bevorzugung seiner männlichen Favoriten. Der anschließende Artikel von Klaus van Eickels liest sich gewissermaßen wie ein theoretischer Kommentar zu der vorhergehenden Fallstudie und analysiert die Konsequenzen für die historische Beschäftigung mit der Vormoderne, die sich aus der Tatsache ergeben, dass es sich beim Konzept der Homosexualität um ein soziales Konstrukt aus dem späten 19. Jahrhundert handelt. Vielleicht hätte dieser Beitrag eine etwas prominentere Positionierung in dem Band verdient, da er einen guten Ausgangspunkt für die kritische Diskussion des Umgangs mit dem Konzept der Homosexualität bildet, der in vielen anderen Beiträgen ebenfalls auf verschiedene Weise reflektiert wird. Norman Domeier wendet sich in seinem anschließenden Beitrag der Epoche des 20. Jahrhunderts zu, in der das Konzept der Homosexualität erstmals in massenwirksame öffentliche Debatten Eingang fand. Sein kenntnisreicher Artikel untersucht die sogenannte Eulenburg-Affäre im Hinblick auf die diskursive Vermengung von Homosexualität, Pazifismus, mangelndem Patriotismus und als illegitim empfundener höfischer Politikbeeinflussung.

Die folgenden drei Artikel, die zu einem Teil zusammengefasst wurden, zeichnen sich durch ihre Diversität aus. Andreas Krass beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Problematik, dass Homosexualität in der deutschen höfischen Dichtung des Mittelalters mit einem Tabu belegt war, und sie deshalb nur durch verschiedene Formen der Anspielung indirekt dargestellt werden konnte. Michael Zywietz beleuchtet den Fall des mutmaßlich pädophilen Kapellmeisters Karls V., Nicolas Gombert. Dominic Janes argumentiert mit Blick auf das Vereinigte Königreich: »there was something flamboyantly queer about the monarchy in the liberal democratic state that has become established since the nineteenth century« (S. 267). Abgesehen von der Frage, ob »flamboyant« eine glücklich gewählte Analysekategorie ist, wurde zumindest dem Rezensenten nicht deutlich, ob der Beitrag nun die Monarchie selbst oder das Bild der Monarchie in der Populärkultur untersuchte.

Der nächste Abschnitt des Bandes beginnt mit Christian Mühlings aufschlussreicher Studie zu den Grenzen des Sagbaren in homosozialer Liebe am preußischen Hof des 18. Jahrhunderts, die auf seiner Analyse der Tagebücher von Ahasverus Heinrich Graf von Lehndorf, dem Liebhaber Prinz Heinrich von Preußens basiert. Virginia Hagns anschließender Artikel über die Korrespondenz zwischen Isabella von Parma und ihrer Schwägerin Marie Christine von Habsburg ist der einzige Beitrag des Bandes, der sich mit einem mutmaßlichen Beispiel für die Liebe zwischen Frauen beschäftigt. Allerdings weist die Autorin auf die Quellenproblematik hin, dass körperliche Intimität zwischen Frauen »außerhalb der Konzepte der Sodomie und Tribadie« (S. 317) von den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen nicht begrifflich gefasst werden konnten. Der darauffolgende Beitrag von Anna Bers widmet sich der Interpretation des Schäferromans »Ein Jahr in Arkadien«, dessen bemerkenswerte Eigenschaft die illustre Herkunft des Autors Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg ist.

Die beiden letzten Artikel des Bandes entfernen sich weiter von höfischen Kontexten als ihre jeweiligen Titel dies suggerieren. Miguel Ángel Lucena Romeros Beitrag befasst sich mit der erstaunlich expliziten Behandlung der sexuellen Praktik des Dabb in der islamischen Literatur des Mittelalters und Stephen J. Roddy berichtet von dem literarischen Genre der »Blumenkataloge« (huapo), in denen männliche Operndarsteller Pekings in der zweiten Hälfte der Qing-Dynastie nach künstlerischen, physischen und moralischen Kriterien miteinander verglichen wurden. Franz Eder gelingt schließlich ein konzises und aufschlussreiches Fazit.

Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Publikation um eine sehr verdienstvolle wissenschaftliche Leistung mit zahlreichen hervorragenden Beiträgen, die hoffentlich den Weg für viele weitere Untersuchungen auf diesem Feld ebnen wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Pascal Firges, Rezension von/compte rendu de: Norman Domeier, Christian Mühling (Hg.), Homosexualität am Hof. Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M. (Campus Verlag) 2020, 401 S. (Geschichte und Geschlechter, 74), ISBN 978-3-593-51076-7, EUR 39,95., in: Francia-Recensio 2022/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87429