Friedrich Rudolf Ludwig von Canitz (1654–1699) gilt in der Literaturgeschichte des deutschsprachigen Raums als »erster Exponent eines an der zeitgenössischen französischen Literatur orientierten Klassizismus« sowie als wichtiger Wegbereiter der Lyrik der Frühaufklärung, dessen Wirkung erst in den 1760er Jahren nachlässt; seine »antihöfische Grundhaltung, seine Romantisierung des Landlebens und der stark autobiographische Zug seiner Dichtung trugen wesentlich zur Verbreitung seiner Lyrik im 18. Jahrhundert bei«.1 Demgegenüber rückt Anna Lingnaus Dissertation über Canitz’ »Lektürekanon« – entstanden im Graduiertenkolleg »Wissensspeicher und Argumentationsarsenal. Funktionen der Bibliothek in den kulturellen Zentren der Frühen Neuzeit« am Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel – den Dichter als »Fürstendiener« und Büchersammler in den Blick. Sie interessiert sich für die ideengeschichtlichen Horizonte, die ihn im Zuge seiner Karriere am Hof Friedrich Wilhelms I. von Brandenburg bewegten und rekonstruiert diese anhand des Auktionskataloges seiner Bibliothek, der 1700 für die öffentliche Versteigerung erstellt wurde – mit »insgesamt 2 232 Titelnennungen und insgesamt 2 607 Bänden« (S. 42f).
Canitz hatte das Studium der Rechtswissenschaften in Leiden und Leipzig (1671–1674) mit einer historisch-politischen Dissertation beschlossen und war nach seiner Kavaliersreise nach Italien und Frankreich sowie der Teilnahme an Feldzügen Friedrich Wilhelms in Rügen und Stralsund, Kurland und Livland in den Hofdienst getreten, wo er vom Kammerjunker, Amts- und »Mühlenhauptmann« bis zum »Geheimen Rat« (1697) und Reichsfreiherrn (1698) (S. 29f.) aufstieg. Seine Eheschließungen mit Dorothea Emerentia von Arnim (1656–1695) und Dorothea Maria von Schwerin (1670–1729) befestigten die soziale Verankerung in den Adelsfamilien vor Ort. Obwohl ihn seine Dienstgeschäfte als brandenburgischer Gesandter immer wieder über längere Zeit von Berlin entfernten – er war etwa Resident in Wien (1686) und dauerhafter Resident in Den Haag (1688–1699), von wo er 1699 erkrankt zurückkehrte, – hielt Canitz zeitlebens an seinem Wohnsitz im Nikolaiviertel und auf dem von der Großmutter ererbten Landgut Blumberg fest, vermeintlich Schauplatz seiner Dichtungen.
Lingnau rekonstruiert die Ideenwelt von Canitz’ Bibliothek schlüssig, gründlich und nüchtern-geschickt durch die Kreuzung verschiedener Quellen – neben dem Auktionskatalog, der in zwei Exemplaren überliefert ist, namentlich dessen Lebensbeschreibungen durch Johann Ulrich von König von 1734 und 1744 durch Joachim Lange, der die Bibliothek genauestens kannte – und Forschungsansätze – der Bibliotheksforschung, Ideengeschichte oder Kanonforschung. Die digitale Rekonstruktion und die quantitative Auswertung der Bibliothek nach Gesamtbestand, Herkunft des Urhebers eines Werkes, Verteilung der Titel auf die Erscheinungsjahre und deren Differenzierung nach Sprachen erlauben, Canitz’ Bibliothek als eine »sehr junge« zu charakterisieren: Sie setzt sich »überwiegend aus damaligen Novitäten zusammen. Von 2 016 Werken, für die ein Erscheinungsjahr angegeben war bzw. ermittelt werden konnte, erschienen 1598, also knapp 80 Prozent in den Jahren 1660–1699, 53 Prozent verteilen sich auf die 80er und 90er Jahre, 31,6 Prozent allein auf die 90er. Das heißt, dass Canitz, wenn überhaupt, nur kleinere Buchbestände von Familienangehörigen und Vorfahren erbte« (S. 53). Bezeichnend ist auch die Zunahme an französischer Literatur: »Die Bücher in Canitz’ Besitz, die in den 1670er und 80er Jahren erschienen sind, wurden etwa zu gleichen Teilen auf Deutsch, Lateinisch und Französisch publiziert, wobei der französische Anteil stetig ansteigt. Die Werke der 1690er Jahre (die Canitz in Anbetracht seines Todes 1699 auch in diesem Zeitraum erworben haben muss), sind zu 43 Prozent französischsprachig, nur noch zu 31 Prozent auf Latein und zu 22 Prozent auf Deutsch verfasst (3 Prozent sonstige Sprachen)« (S. 54). Der Hugenottenzuzug nach Berlin nach 1686 wird zum kulturellen Umschwung für Canitz’ Lektüre: Schon bevor Robert Roger von 1696 bis 1704 »als offizieller französischer Hofbuchdrucker« bestallt war, stellte er 1693 Canitz »über 100 ausschließlich französischsprachige Titel« in Rechnung (S. 56).
Als außerordentlich fruchtbar für die inhaltliche Erschließung des politischen Gedankenguts, das Canitz im Laufe seiner Karriere beschäftigt haben dürfte, erweist sich die Auswertung von zeitgenössischen politischen Leseanweisungen und deren Kombination mit der Bibliothek. Lingnau greift exemplarisch vier Werke heraus, Johann Andreas Boses »Bibliotheca politica contracta« (1677), Johann Georg Kulpis’ »De Studijs Academicis Juvenis Nobilis« (1688), Daniel Hartnacks »Anweisung der politischen Jugend« (1690) und Carl Arnds »Bibliotheca Politico-Heraldica Selecta« (1705). Alle richten sich an den künftigen politicus, um ihn in der prudentia civilis auszubilden, der unverzichtbaren Grundlage seiner Dienstgeschäfte: »Es wurde zum Mittel und Zweck der prudentia civilis, erkennen zu können, welches Wissen und welche Erfahrungen für die Ausbildung der eigenen Klugheit urbar gemacht werden konnten.« (S. 67). Die Leseanweisungen präsentieren und kommentieren die dazu »richtige politische Literatur« und damit das gesamte Spektrum der von den Zeitgenossen diskutierten Konzepte der Politik. Der Abgleich der Leseanweisungen mit Canitz’ Bibliothek – er selbst schaffte Hartnacks »Anweisung« wohl für die Erziehung des einzig ihm verbliebenen Sohnes an – macht deutlich, »[…] welche diskursiven Gewebestrukturen sich zu konkreten politischen Leitideen verdichten und welche Verweissysteme in der Bibliothek wie stark repräsentiert sind« (S. 350). Ebenso flagrant sind die Lücken, die seine Bibliothek im Gegensatz zu der »weitestgehend harmonischen Trias von Aristotelismus, Klugheitslehre und Staatswissenschaft« (S. 355) der Leseanweisungen aufweist, und zwar besonders im Hinblick auf den Aristotelismus: Aristoteles’ »Politik« fehlt ebenso wie ihre Auslegungen, worin sich auch der von der Forschung konstatierte »allmähliche Niedergang des Aristotelismus im 17. Jahrhundert« (S. 355) spiegelt. Canitz optiert stattdessen für tacitistisch-stoizistische Werke, einen moralisierenden Antimachiavellismus und eine Hofkritik, die eben auch seine Dichtung, vor allem seine Satiren, prägt.
Der Durchgang durch die Materialkanons der Leseanweisungen wie der durch die Deutungskanons, die sich daran anschließen, machen nachvollziehbar, wie und über welche Argumentationslinien sich die »akademische Politikwissenschaft« (S. 333) formiert, ein Aspekt, der in der Forschung bislang unterschätzt wurde (S. 355). Dass die zunehmende Verbreitung und Rezeption der französischsprachigen Biografien- und Memoirenliteratur in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ihrerseits eine neue Definition von Politik hervorbringt, die weniger durch eine aristotelisch fundierte Gelehrsamkeit als durch die Orientierung an einer selbst erlebten und bezeugten Empirie auf diesem Felde begründet ist, bezeugt Canitz’ Bibliothek ebenfalls.
Lingnaus Studie dürfte nicht nur der Canitz-Forschung entscheidende neue Anstöße geben, sondern auch der Erforschung und Bestimmung der Profile privater Bibliotheken der Frühen Neuzeit, stammen diese von Gesandten oder Gelehrten, Fürsten oder Fürstinnen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Helga Meise, Rezension von/compte rendu de: Anna Lingnau, Lektürekanon eines Fürstendieners. Die Privatbibliothek des Friedrich Rudolf von Canitz (1654–1699), Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2021, XVI–498 S., 5 Abb., 6 Tab. (Bibliothek Altes Reich, 32), ISBN 978-3-11-068516-9, EUR 79,95., in: Francia-Recensio 2022/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87435