Der vorliegende Band veröffentlicht zwölf von insgesamt 26 Beiträgen, die während der dreitägigen Konferenz »Ars Antiqua III: Music and Culture in Europe c. 1150‑1330« 2018 in Lucca präsentiert wurden. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus England, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten setzen sich in dieser Sammlung von musikalischen, kulturellen und philosophischen Aufsätzen mit der Ars antiqua auseinander, und zwar aus ganz unterschiedlicher Perspektive. So entsteht ein Panorama vielfältiger Forschungsansätze zu folgenden Themen: Conductus-Repertoire, lateinische und weltliche Lieder, Refrain und Offizien, Musikbeispiele aus dem Traktat des Franco von Köln und scholastische Ästhetik.

Die im Titel deutlich festgelegte Zeitspanne zwischen ca. 1150 und 1330 umfasst die Entstehung und europaweite Verbreitung der musikalischen Ära der Ars antiqua, in der mehrstimmige, einstimmige, liturgische, weltliche, lateinische und volkssprachliche Gattungen gleichermaßen gepflegt wurden. Eine so weitreichende Verbreitung von Repertoire, Handschriften, Traditionen und Ideen ist vergleichbar mit der Einführung und Verbreitung des einstimmigen liturgischen Gesangs seit der karolingischen Reform1. Die historische Einordnung der Ars antiqua einerseits als »Phase der Mensuralnotation«2 und andererseits als Vorgängerin der Ars nova wurde u. a. von Max Haas als unzureichend qualifiziert, da die heute bekannten Quellen ein viel komplexeres Bild abgeben3. Bevor eventuell ein neuer Begriff gefunden und geprägt wird, kann dieser, wie es Wolf Frobenius bereits 1994 formulierte, »durchaus einer schnellen Verständigung dienen«4.

Die Beiträge befassen sich mit den wichtigsten mehrstimmigen und einstimmigen Gattungen, ihrer Überlieferung und Verbreitung, über die Ars antiqua-Epoche hinausgehend. Der erste Beitrag stammt vom Mitherausgeber Gregorio Bevilacqua. Er befasst sich in »The Production of Polyphonic Conductus Collections in Ars Antiqua Manuscripts« (S. 1–33) mit der Pariser Handschriftenproduktion im 13. Jahrhundert und identifiziert Conductus-Cluster, die es in einigen beispielhaften Fällen ermöglichen, Verbindungen zwischen späteren Kopien der Handschriften und ihren verlorengegangenen Modellen nachvollziehbar zu machen. Mary Channen Caldwell beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit »Texting Vocality: Musical and Material Poetics of the Voice in Medieval Latin Song« (S. 35–72), d. h. mit klanglichen oder spielerischen Unterbrechungen eines poetischen Textes wie »eya« oder »hei«. Diese Ausrufe können zum Beispiel eine reimende Funktion haben, und sie können eine Klangwiederholung wie »o-o-o«, die Freude oder Jubel ausdrückt, oder ein vokalischer Hoquetus sein. Anne Ibsos-Augé präsentiert in »Poetic and Melodic Recurrences in the Thirteenth-Century Refrain Repertoire« (S. 73–96) innerhalb des Korpus der Refrains spezifisch die mehrfach auftretenden und leicht variierenden Melodien oder Texte, oft nur Teile oder einzelne Melodiezeilen; sie nennt diesen Prozess treffend »quotation game« (S. 88). Im Annex ihres Beitrags werden Texte und Melodien der besprochenen Refrains (und eine Motette) vollständig ediert.

Der Aufsatz »Franco of Cologne, Ars cantus mensurabilis: Ligature, Notation and Mode« (S. 97–112) von Kaho Inoue geht auf die Mensuralnotation, insbesondere auf die Notation von Ligaturen sowie auf die spätere Rezeption des musiktheoretischen Traktates bis in die Renaissancezeit, ein. Der wichtigste Teil dieser Studie befasst sich mit den Musikbeispielen im zehnten Kapitel des Traktats und ordnet diese nach den fünf rhythmischen Modi. Diese Verbindungen zwischen den Quellen ermöglichen es, das Verständnis der Formen und den Gebrauch der Ligaturen zu vertiefen, die schon zu Francos Zeiten nicht immer nachvollziehbar waren. »L’auditio del pulchrum musicale in Tommaso d’Aquino et Bonaventura da Bagnoregio« heißt die folgende, auf Italienisch geschriebene, Studie von Matteo Macinanti (S. 113–124), die die Begriffe des musikalisch Schönen (pulchrum) und des Hörens (auditio) sowie ihre Entwicklung in den scholastischen Schriften des 13. Jahrhunderts von Thomas von Aquin und Bonaventura bis hin zu Dantes »Paradiso« untersucht.

Nausica Morandis Aufsatz »The Corpus of Sequences for Saint Antony of Padua: A Study of the Musical Sources« (S. 125–142) befasst sich mit der Quellenstudie einiger Sequenzen zu Ehren des heiligen Antonius. Morandi präsentiert aus ihrem Korpus von insgesamt 13 Sequenzen, die zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert entstanden, die folgenden vier: »Ad honorem Christe tuum«, »Gemma lucens paupertatis«, »Hodierne lux Diei« und »O quam felix Antonius« und ediert jeweils den Text sowie zumindest Teile der Melodien. Für die beiden Sequenzen »Ad honorem und Hodierne« konnten sogar neue Text- und Melodiequellen nachgewiesen werden.

Grace Newcombe verlässt das lateinsprachige Repertoire und untersucht das englische Lied »Worldes blis« (»Britain’s Cleric Composers: Poetic Stress and Ornamentation in Worldes Blis«, S. 143–161). Das Lied ist in zwei Sammelhandschriften ( GB-Lbl Arundel 248, fol. 154r und GB-Ob Rawlinson G.18) für einen möglicherweise geistlichen Gebrauch überliefert. Newcombe analysiert die melodischen Varianten auf akzentuierten und nichtakzentuierten Silben, vergleicht dabei die beiden Quellen und gelangt zu dem Schluss, dass die Varianten in Arundel eher eine verzierende Funktion hatten. Sie fragt sich sogar, ob die Rawlinson-Quelle ein Prototyp gewesen sein könnte, es bleibt jedoch schwierig, Überlieferungsprozesse bei einer solchen Quellenlage nachzuvollziehen.

»Vetus abit littera: From the Old to the New Law in the Parisian Conductus« heißt Thomas B. Paynes umfassender Aufsatz (S. 163‑204) über das Notre-Dame Conductus-Repertoire. Der erste Teil (S. 163‑184) befasst sich mit 25 Conductus-Texten, die den Gegensatz Altes – Neues Testament thematisieren, der zweite Teil (S. 184‑193) konzentriert sich auf die dazugehörige Musik bzw. die Musik-Text-Beziehungen anhand zweier Beispiele: das strophische »Dum medium silentium« und das zweistimmige »Novum sibi texuit« (ediert im Appendix). Anne-Zoé Rillon-Marne hat sich in ihrem Beitrag »Conductus sine musica: Some Thoughts on the Poetic Sources of Latin Songs« (S. 205‑217) für lateinische Monodien ohne Melodieüberlieferung interessiert, und zwar für ihre Textquellen und die unterschiedlichen Arten der formalen Textgestaltung. Die lateinische rithmus-Praxis unterscheidet sich von metrischen Gedichten vor allem durch eine »konsonante Gestaltung der Reime« (S. 205) und Rillon-Marne zeigt, dass man vor allem in den späteren Quellen wie GB-Ob Rawl. C. 510 sogar davon ausgehen könne, dass das vokal geprägte, klangliche Conductus-Repertoire eventuell auch nur für die individuelle Lektüre (S. 217) gedacht war. In einem ausführlichen sechsseitigen Appendix katalogisiert die Autorin die lateinischen Lieder der beiden Oxforder Quellen aus der Bodleian-Bibliothek ( GB-Ob Add. A. 44 ; GB-Ob Rawl. C. 510) mit ihren musikalischen Konkordanzen und Rubriken.

Die beiden letzten Beiträge sind von Jennifer Louise Roth-Burnette (»Mapping Melodic Composition: A Metadata Approach to Understanding the Creation of Parisian Organum Duplum«, S. 227–270) und Amy Williamson (»Polyphonic Music in the British Isles c. 1300: Networks of Practice«, S. 271–304). Roth-Burnette untersucht die Frage, wie die Pariser Organum-Sänger des 12. Jahrhunderts die Melodien innerhalb des organum duplum schufen, und zwar anhand einer Analyse der Metadaten von Melodieformeln. Williamson beschäftigt sich mit britischen »insularen« mehrstimmigen Kompositionen des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts, die oft in fragmentarischen Quellen und nur in wenigen Fällen (ca. 9%) mehr als einmal überliefert sind. Sie listet Konkordanzen auf und versucht, Beziehungen zwischen den Handschriften bzw. Netzwerke in der musikalischen Praxis nachzuweisen.

Der Tagungsband ist eine gelungene Fortsetzung des in »Musica Disciplina«, Bd. 58 (2013) erschienen Vorgängers, in dem drei der hier besprochenen Autoren bereits einen Aufsatz veröffentlicht hatten.

1 Susan Rankin, Writing Sounds in Carolingian Europe. The Invention of Musical Notation, Cambridge 2018.
2 Wolf Frobenius, Art. Ars antiqua in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart, New York 2016ff., zuerst veröffentlicht 1994, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/11731 (16.02.2022).
3 Max Haas, Die Musiklehre von Garlandia bis Franco, in: Hans Heinrich Eggebrecht, Franco Alberto Gallo, Max Haas, Klaus-Jürgen Sachs (Hg.), Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit, Darmstadt 1984 (Geschichte der Musiktheorie, 5), S. 92–96.
4 Frobenius, Ars antiqua (wie Anm. 2).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Kristin Hoefener, Rezension von/compte rendu de: Gregorio Bevilacqua, Thomas B. Payne (éd.), Ars Antiqua. Music and culture in Europe c. 1150–1330, Turnhout (Brepols) 2020, XVIII–317 p. (Speculum musicae, 40), ISBN 978-2-503-59099-8, EUR 110,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87446