2021 beendete Marc Boone, einer der renommiertesten belgischen Stadt- und Landeshistoriker, seine aktive Tätigkeit als Hochschullehrer an der Universität Gent und erhielt aus diesem Anlass den hier vorzustellenden, von Schülerinnen und Schülern sorgfältig redigierten Band mit zehn eigenen Aufsätzen in englischer Sprache, die zum Teil hierfür aus dem Niederländischen und Französischen übersetzt wurden. Für den polyglotten Autor selbst ein gewohntes Terrain, publiziert er doch in diesen und noch weiteren Sprachen, darunter der deutschen, seit Jahrzehnten in dichter Folge: Die den Band einleitende 32-seitige Liste seiner Veröffentlichungen umfasst – Herausgaben, Lexikonartikel und Rezensionen eingeschlossen – rund 400 Titel. Sie beschäftigen sich vornehmlich mit der Geschichte der Städte Flanderns, allen voran von Gent und Brügge, sowie der flandrischen Grafschaft in Spätmittelalter und Früher Neuzeit.

Allesamt auf exzellenter Quellen- und Literaturkenntnis – d. h. auch der deutschsprachigen Forschung – basierend und dabei immer auf archivalisches Material rekurrierend, erfassen die klar gegliederten und gut lesbaren Studien politische, soziale, ökonomische, rechtliche und auch private, insbesondere aber finanzielle und fiskalische Aspekte der Thematik. Der großen historiografischen Tradition seiner Vorgänger in älterer wie jüngerer Vergangenheit verpflichtet (z. B. Pirenne [vgl. S. 189–192], Prevenier, Blockmans), versteht Boone sich selbstverständlich und zugleich auf moderne Forschungsmethoden und theoretische Fragestellungen; so erweist er sich etwa als prosopografischer Meister bei der Aufdeckung personeller Netzwerke der Zeit (und ist obendrein selber ein Netzwerker von hohen Graden, wie schon die Vielzahl der von ihm im Verbund mit zahlreichen Kollegen – darunter seiner Gattin, der Historikerin Thérèse de Hemptinne – besorgten Sammelbände, die Präsidentschaften in vielen Fachgremien oder auch die Mitarbeit in Unternehmen vom »Lexikon des Mittelalters« bis hin zu den »Chevaliers de l’Ordre de la Toison d’Or au XVe siècle« belegen).

Allen Arbeiten eignet ein starkes komparatistisches Moment mit burgundisch-niederländischer Akzentuierung; ja, der Stadt- und Regionalhistoriker, der gleichsam als flämischer Kant seine Heimatstadt und Universität Gent nie verlassen hat, nimmt – man beachte das Foto auf dem Buchrücken – vom heimatlichen Schreibtisch aus in weitem Ausgriff Alteuropa in den Blick (was vor dem dominierenden Hintergrund seiner Studien, eben Burgund, auch nicht verwundert; exemplarisch sei nur auf seine Dissertation »Gent en de Bourgondische Hertogen , ca. 1384–ca. 1453. Een sociaal-politieke studie van een staatsvormingsproces« [1990] erinnert; im Übrigen hat er das viel diskutierte Problem burgundischer Staatlichkeit bzw. deren Genese und Ausformung wiederholt aufgegriffen). Kurz gesagt, Boone bewegt sich in seinen Arbeiten auf einem Niveau, dem ich in Deutschland gegenwärtig nur das Werk von Eberhard Isenmann1 an die Seite zu stellen wüsste. Beider Œuvre demonstriert eindrucksvoll, dass eine sowohl klassisch-hilfswissenschaftlich fundierte als auch in modernen Methoden und Fragestellungen versierte Stadt- und Landesgeschichte immer noch eine Leitfunktion für die gesamte historische Disziplin auszufüllen imstande ist. (Aber auch gastronomisch und önologisch scheint unser Autor eine Spitzenposition einzunehmen, folgt man den statt einer akademischen Würdigung von Person und Werk eingangs versammelten kurzen Statements seiner Freunde und Kollegen [S. 9–14]. Hier geht es eher weniger um die fachlich ohnehin anerkannte Leistung als um das Profil des Feinschmeckers und Weinkenners, das Bilder von Rubens oder Chansons von Brassens und Moustaki evoziert: ein originelles, lesenswertes Florilegium.)

Auch die zehn, zwischen 1988 und 2012 bereits sämtlich gedruckten Aufsätze selbst gehören zum etablierten Kanon und bedürfen hier nicht Stück für Stück erneuter Präsentation und kritischer Analyse; sie werden jedenfalls, so sie bislang nur in Niederländisch vorlagen, deren internationale Kenntnisnahme befördern. Thematisch bewegen sie sich, in drei Abteilungen untergliedert (»Finance and Fiscality«, »Modernity, Space, and Conflict«, »Private Life and Sexuality«) im oben skizzierten Rahmen. Sie traktieren dabei, ob nun in finanzgeschichtlicher Spezialuntersuchung oder im breiten, West- und Alteuropa an der Epochenwende erfassenden Überblick als Leitthema durchgängig, das große, sich in der symbolischen wie faktischen Besetzung des Raums vor Ort spiegelnde Widerspiel von städtisch-kommunalem Partikularismus und zentralisierendem Fürstenstaat, der nicht nur militärisch oder fiskalisch, sondern mit dem Anspruch eines Garanten der Wahrung göttlicher Ordnung bis in den sexuellen Bereich hinein (Sodomieverfahren) seinen Machtwillen demonstriert, welcher sich allerdings angesichts der ebenso feingesponnen-dichten wie traditionsgehärteten Strukturen vor Ort keineswegs als auf Dauer widerstandslos durchsetzbar erwies.

Boone sieht in den Städten differenzierte soziale Organismen, die trotz scharfer innerer, sich mehrfach in Revolten entladender Antagonismen durch eine einzigartige spannungsvolle Partnerschaft von Individuum und Kollektiv bestimmt waren, und damit ihrerseits den spezifisch europäischen Weg in die Moderne mitprägten, ohne dass dabei aber, wie man im 19. Jahrhundert und noch darüber hinaus glaubte, je Vorstellungen von genuin demokratischer Verfassung zum Tragen gekommen wären. In ebendiesem Zusammenhang, dem Blick auf die Geschichte der Stadtgeschichtsschreibung, verdient die Studie »Cities in Late Medieval Europe. The Promise and Curse of Modernity« (S. 187–206) besondere Aufmerksamkeit seitens der deutschen Leserschaft, da hier meisterlich-konzis auf gerade einmal zehn Seiten (S. 194–203) Entwicklungen und Tendenzen, Wege und Irrwege der einschlägigen Forschung im deutschen Bereich von Lamprecht und Weber über Petri und Ennen bis zu Schulz und Isenmann nachgezeichnet werden. Weil der Titel des Beitrags solchen Exkurs nicht unbedingt erkennen lässt, sei hierauf eigens und empfehlend hingewiesen. Und dass solche Empfehlung für die gesamte Aufsatzsammlung gilt, versteht sich nach Gesagtem ohnehin.

1 Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln 2012.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Marc Boone, City and State in the Medieval Low Countries. Collected Studies,Turnhout (Brepols) 2021, 264 p., 3 tabl., 4 graph. (Studies in European Urban History [1100–1800], 52), ISBN 978-2-503-58123-1, EUR 84,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87447