Dieses Buch prätendiert, wissenschaftlich zu arbeiten und viel Neues zu Jeanne d’Arc zu bringen. Nichts, aber auch gar nichts davon ist zutreffend. Es handelt sich leider nur um ein weiteres Produkt aus der nahezu unendlichen Reihe »revisionistischer« Jeanne-Literatur, in dem auch unverfroren all das, was seit Beginn des 19. Jahrhunderts behauptet worden ist, als »neu« verkauft wird. Das fängt mit der vorgeblichen Auswertung der gedruckten Akten des 1450 angestrengten Revisionsprozesses an. Der Verfasser hat zwar immer wieder als Quellenangabe »Procès en nullité de condamnation«, was auf die Ausgabe von Pierre Duparc (5 Bde., 1977–1988) verweist (etwa S. 46f. nicht weniger als elfmal, ich habe aber nur ein einziges Mal eine Übereistimmung mit der Quellenangabe finden können). Normalerweise bedient der Verfasser sich der »populären« zusammenfassenden Edition von Raymond Oursel. Und auch die wirklich quellenstarke Internet-Seite von www.stejeannedarc.net hat er offensichtlich ab und zu konsultiert.
Die behauptete Quellennähe ist also nur Mimikry. Die Forschungsliteratur hat der Verfasser nahezu gänzlich ignoriert, was bei Überzeugungsschreibern dieser Art allerdings nicht ungewöhnlich ist. Weder Colette Beaune mit ihrer vorläufig definitiven Biografie der Jungfrau (2003) noch Philippe Contamine, Françoise Michaud oder Olivier Bouzy, um nur die aktuell wichtigsten Jeanne- Historikerinnen und Historiker zu nennen, tauchen dort auf. Dafür aber natürlich all diejenigen, die in den letzten 50 Jahren sensationelle Neuigkeiten zur Jungfrau jenseits der Quellen und Historiografie gebracht haben: Jean Grimod, »Jeanne d’Arc a-t-elle été brûlée?« (1952), Gérard Pesme, »Jehanne d’Arc n’a pas éte brûlée« (1960) und Pierre de Sermoise, »Les Missions secrètes de Jehanne la Pucelle« (1970) sowie schließlich die in diesem Zusammenhang unvermeidlichen Roger Senzig und Marcel Gay, mit ihrer »L’Affaire Jeanne d’Arc« (2007). Was diese Forscher so alles behaupten und glauben, belegen zu können, ist zwar schon zigfach widerlegt worden, aber bei tiefem Glauben helfen bekanntlich alle Widerlegungen nichts.
Kernpunkt der Argumentation auch dieses Buches ist wieder einmal die Behauptung, dass Jeanne gar nicht verbrannt worden ist, sondern überlebt hat und dann auch unter der Gestalt der Jeanne des Armoises wenige Jahre später wiederauftauchte. Es ist ja zutreffend, dass es diese Episode gegeben hat, die zuletzt Olivier Bouzy en détail analysiert hat, nämlich, als 1436 eine Claude des Armoises in Orléans und anderen Städten auftauchte, sich als Jeanne zu erkennen gab und kurze Zeit lang gefeiert wurde, bevor ihr Spiel entdeckt wurde und sie öffentlich abbüßen musste.
Die Originalität von Dehayes liegt nunmehr darin, dass er herausgefunden hat, dass der Revisionsprozess in Wirklichkeit gar nicht der Entschuldigung der 1431 nur vorgeblich auf dem Scheiterhaufen verbrannten Jungfrau galt, sondern inszeniert worden war, um König Karl VII. von dem auf ihm lastenden Verdacht (den die Engländer immer wieder neu nährten) zu entlasten, seinen Thron einer Hexe zu verdanken.
Aber diese hier sensationell dargebotene Neuigkeit gehört spätestens seit den 1840er Jahren zum Kernwissen der Jeanne-Geschichtsschreibung. Es hätte in der Tat diesen Prozess wohl nicht gegeben, wenn sich Karl VII. nicht von diesem Vorwurf hätte reinigen wollen. Aber dem Verfasser geht es vor allem darum zu zeigen, dass die Zeugenaussagen im Revisionsprozess, denen wir ja in der Tat den größten Teil der Informationen über das (kurze) Leben Jeanne d’Arcs verdanken, vollständig unauthentisch sind, da sie nur dazu dienen sollten, den König in einem guten Licht erscheinen zu lassen. Und deshalb wurde dann auch gelogen und erfunden, wenn es um die Herkunft Jeannes aus dem ärmlichen dörflichen Milieu von Domrémy geht. Denn Jeanne muss einfach adeligen Geblüts gewesen sein, sonst hätten die Hohen Herren von Orléans und des königlichen Hofs ihr doch nicht so einfach geglaubt und gehorcht! So muss also auch der »Bastard« von Orléans und spätere Graf Dunois schlicht gelogen haben, wenn er im Revisionsprozess berichtete, dass er einem einfachen Bauernmädchen gefolgt sei. Außerdem habe Jeanne ja auch selber erklärt, dass sie königlichen Geblüts sei (S. 41). Das stimmt zwar nicht, aber vielleicht war sie ja sogar die verschwiegene Tochter von Louis d’Orléans, wie der Verfasser triumphierend anmerkt, denn daraus würde sich ihr vertraulicher Umgang mit den Hohen Herren hinreichend erklären.
Es lohnt nicht, diese Fantastereien hier weiter auszuführen. Aber es ist einfach nur schrecklich, dass solche Bücher auch nach 500 Jahren ernsthafter Quellenforschung überhaupt noch möglich sind und offensichtlich ein Publikum finden. Das lässt sich – wenn man generös ist – nur damit erklären, dass der Schmerz über das Schicksal der Jungfrau von Orléans immer noch so groß ist, dass man die einfachsten historischen Gegebenheiten beiseitelassen und immer neue Fantasie-Geschichten verfassen und lesen muss, damit der Schmerz nicht durchbricht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Gerd Krumeich, Rezension von/compte rendu de: Thierry Dehayes, La fabrique de Jeanne d’Arc, Neuilly-sur-Seine (Éditions Atlande) 2021, 397 p., 25 doc. et ill. (Une autre Histoire), ISBN 978-2-35030-723-7, EUR 19,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87453