Der Band präsentiert Ergebnisse einer 2015 in Groningen veranstalteten Tagung. Auf eine Einleitung folgen zehn Aufsätze, ein Verzeichnis von Handschriften, Archivquellen und Inkunabeln sowie ein Orts- und Personenregister. Es gibt keine Einteilung in Sektionen oder Themenschwerpunkte. In ihrer Einführung stellt Suzan Folkerts das methodische Konzept vor, einen holistischen Ansatz, der im Gegensatz zur westlichen Forschungstradition stehe (»As a system of thought, holism is a non-western approach to reality, ›attending to the entire field, assigning causality to it making little use of categories and formal logic‹ [Richard E. Nisbett et al.]. Such an approach is the very opposite of what [western] academics are used to doing, making use of categories and rules« [S. 13f]). Darüber hinaus steht der im Buchtitel genannte Aspekt der connectivity im Vordergrund. Dieser Begriff wurde bisher vor allem in Studien zu Medien und Kommunikation, für das Internet und in der Organisationswissenschaft verwendet, u. a. für geo-physikalische und technische Prozesse, aber auch für soziale Interaktionen und Artefakte. Ausgangspunkt der Autorin sind Forschungen von Courtney Luckhardt, José van Dijk (zu social media), Agnes M. Brazal und Kochurani Abraham (zu feministischer Cyberethik in Asien), von Darl Kolb (zur Organisationswissenschaft/organization studies) und besonders von Luís Lobo-Guerrero (zu Politik im globalen Rahmen) und Manuel Vásquez (zu Religion und Netzwerken). Es handle sich dabei um ein Werkzeug (tool) zur Analyse und Beschreibung menschlicher Beziehungen und menschlicher Kommunikation in (dynamischen) Netzwerken, das die Grenzen zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Sektoren überwinden könne. Ursprünglich für technische Verbindungen, z. B. zwischen Maschinen in einem Netzwerk entwickelt, wird es hier auf Verbindungen zwischen Menschen, religiösen Aktivitäten und Artefakten in Netzwerken angewandt und auf Gemeinschaften (communities) und räumliche Areale bezogen (S. 16).
Marina Gazzini legt einen sehr interessanten Beitrag zu italienischen Städten vor. Dort trugen in Bruderschaften und Gesellschaften (societates, scholae) organisierte geistliche und weltliche Intellektuelle der Zeit, mit Hilfe eines »Bildungsprogramms« für die Bevölkerung, zur inneren Integration und Befriedung der häufig durch heftige Konflikte zerrissenen Stadtgesellschaften bei. Cora Zwart liefert eine Fallstudie zur Netzwerkbildung eines Individuums, des aus niederem Adel stammenden Utrechter Ratsherrn und Bürgermeister Dirck Borre van Amerongen (ca. 1438–1528). Obwohl er 1489–1525 in Verbannung lebte, hielt er enge Verbindungen zur Stadt aufrecht, insbesondere zur Ratskirche, der Buurkerk. Er nutzte religiöse Stiftungen zur Statuswahrung, besaß Bücher mit religiösem Inhalt, sorgte für seine eigene und die memoria seiner Familie und nahm Einfluss auf religiöse Praktiken seiner Nachkommen. Megan Edwards Alvarez wählt eine völlig andere Zugriffsweise – über Archäologie, Zooarchäologie, Anthropologie und die semiotische Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce. Sie untersucht Metzger im schottischen Perth, Orte ihrer Ansiedlung in der Stadt, ihre über Altäre und die Art des Martyriums vermittelte Verbindung zu Heiligen sowie die Folgen von Bildersturm (1559) und Reformation. Letztere habe, insbesondere durch die Prädestinationslehre, zu einer Trennung der Sphären der Lebenden und der Toten geführt. Johanneke Uphoff beschäftigt sich mit Buchstiftungen durch Laien, besonders von Frauen, an religiöse Einrichtungen in den Niederlanden (1400–1550). Sie erblickt darin einen Indikator für eine gemeinsame religiöse Kultur. Dabei stützt sie sich auf ein Quellencorpus von 27 mittelniederländischen Handschriften. An-Katrien Hanselaer präsentiert das Leseprogramm des 1430 gegründeten Frauenkonvents Sint-Catharinadal des Dritten Ordens der Franziskaner in Hasselt in der Diözese Lüttich, das durch Einflüsse der Bewegung der Devotio moderna und Misstrauen gegenüber religiöser Mystik geprägt war. Elemente von für Laien bestimmter religiöser Literatur galten als geeignet, um Novizinnen die Integration in die Gemeinschaft zu erleichtern. Andere Werke waren für die Lektüre erfahrener Mitglieder der geistlichen Gemeinschaft vorgesehen.
Die Studie von Cécile de Morée widmet sich der Wiederverwendung von im weltlichen Kontext entstandenen Melodien für geistliches Liedgut, bzw. den vor allem bei mittelniederländischen Liedern sehr zahlreichen sog. contrafacta (d. h. Ersetzung eines Textes durch einen anderen ohne größere Veränderungen der Musik). Als Ausgangspunkt dient die »Dutch Song Database«, die ca. 170 000 vor 1550 entstandene Lieder in mittelniederländischer Sprache erfasst. Die Autorin kommt u. a. zu folgenden Ergebnissen: Die religiöse Liedkultur habe sich teilweise unabhängig von ihrem weltlichen Gegenstück entwickelt. Vor allem dort, wo enge Beziehungen zwischen den Benutzern religiöser Liedersammlungen und ihrer städtischen Umgebung bestanden, habe es dennoch einen erheblichen Einfluss gegeben. Dies lasse sich auch damit erklären, dass städtische religiöse Gemeinschaften wie die Beginen von Zwolle häufig weltlichem Liedgut akustisch ausgesetzt waren. Bei monastischen Gemeinschaften spielte dieser Faktor eine geringere Rolle. Delphine Mercuzot spürt den Aktivitäten des frühen Buchdruckers William Caxton (ab 1476) nach, z. B. seinem Beitrag zur Verbreitung religiösen Wissens und zur Entstehung literarischer Netzwerke in England; dazu gehörten auch Patronage-Beziehungen, wie z. B. zu Lady Margareth Beaufort, der Mutter des späteren Königs Heinrich VII. aus dem Hause Tudor. Caxton, der in kirchlichem Auftrag auch Ablassformulare druckte, war ursprünglich Anhänger des Hauses York. Vor allem die Unterstützung der Verbreitung des Winifred-Kultes durch eine (mit Fehlern behaftete) Übersetzung Caxtons aus lateinischen Vorlagen sollte walisische Leser gewinnen und hatte politische Implikationen. D. Mercuzot unterstreicht die Bedeutung der Abteien Shrewsbury und Westminster und die zentrale Rolle der Einbindung Caxtons in städtische und familiäre Netzwerke. Elsa Kammerer stellt anhand der Untersuchung von Illustrationen biblischer Stoffe fließende Übergänge zwischen weltlichem und geistlichem Bereich fest. Der Wettbewerb unter Druckern (z. B. in Lyon, Frankfurt, Straßburg und Antwerpen) habe sich stimulierend ausgewirkt. Ihre Werke dienten Künstlern und Kunsthandwerkern als Modelle und waren u. a. auch für die Ausbildung der Jugend bestimmt. Besonders bemerkenswert sind Ausführungen zur Mehrsprachigkeit der frühen Druckwerke und zu Stammbüchern/Libri amicorum.
María José Vega stellt die Rezeptionsgeschichte der Dialoge zwischen einem Doktor, einem Köhler und dem Teufel in mehreren europäischen Ländern vor. Ihr Beitrag ist unter komparatistischen Gesichtspunkten von sehr hohem Interesse. In diesen fiktiven Streitgesprächen ging es um grundlegende theologische Fragen, Laienfrömmigkeit und den erforderlichen Umfang der Vermittlung religiösen Wissens an das ungebildete Volk und Frauen (Bsp. Bibellektüre) sowie um von der Kirche verbindlich definierte Glaubensinhalte. Das Grundmuster des Dialogs wurde dem jeweiligen Zweck entsprechend abgewandelt und angepasst und sowohl von katholischer als auch von protestantischer Seite für interkonfessionelle Polemik instrumentalisiert. Zahlreiche Autoren wie Erasmus, Luther, Albertus Pighius, Stanislas Hosius, Jacob Andreae, Matthias Flacus Illyricus, Silvio Antoniano, Miguel de Medina und der spanische Protestant Cipriano de Valera griffen den Stoff auf. Sie verfolgten dabei ganz unterschiedliche Ziele. Ein Beitrag der Herausgeberin zum goldenen Zeitalter des Buchdrucks in der Hansestadt Deventer (vor 1520) schließt den Band ab. Dort waren bereits früh mittelniederländische Übersetzungen lateinischer religiöser Texte verfügbar, die ein besseres Verständnis der lateinischen Messe ermöglichten. Es fanden öffentliche Lesungen statt. Die Lesefähigkeit war bereits bemerkenswert weit entwickelt.
Insgesamt gesehen handelt es sich um eine wichtige Aufsatzsammlung, die unterschiedliche Leserkreise anspricht. Einige Artikel behandeln stark technische Aspekte, die vor allem Buchwissenschaftler und ein an Kodikologie interessiertes Publikum ansprechen, während andere eher kulturgeschichtlich orientiert sind oder Beiträge zur mittelalterlichen Frömmigkeitsgeschichte liefern. Unter komparatistischen Aspekten sind vor allem die Beiträge zu frühen Druckern und der Artikel von María José Vega sehr aufschlussreich.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Suzan Folkerts (ed.), Religious Connectivity in Urban Communities (1400–1550). Reading, Worshipping, and Connecting through the Continuum of Sacred and Secular, Turnhout (Brepols) 2021, 285 p., 2 b/w ill., 12 colour ill., 5 b/w tables (New Communities of Interpretation, 1), ISBN 978-2-503-59081-3, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87456