Die Zerstörung der Pariser Kathedrale Notre-Dame im April 2019 hat weltweite Bestürzung ausgelöst. Für den Pariser Kunsthistoriker Alexandre Gady war sie der Anlass, die Baugeschichte dieses nationalen Monuments im Spiegel der bildlichen Überlieferungen neu zu erzählen. Wie kaum ein zweites Bauwerk ist Notre-Dame Bestandteil eines kollektiven und globalen imaginaire: Zurecht steht am Beginn des Buchs die Frage, Notre-Dame aus welcher Epoche eigentlich Gegenstand dieser Vorstellung und damit auch des in vollem Gang befindlichen Wiederaufbaus ist. Die reich bebilderte und aufwändig ausgestattete Monografie macht den permanenten Wandel der Pariser Kathedrale und ihrer Repräsentationen in den Bildwelten einer jeden Zeit anschaulich. Der Autor hat zu zahlreichen Hauptwerken der Pariser Architektur, großen Architekten und zur Pariser Topografie des Grand Siècle publiziert. In seinem neuen Werk stellt er die Baugeschichte von Notre-Dame, über seinen Schwerpunkt in der frühneuzeitlichen Architekturgeschichte hinaus, in größere zeitliche Zusammenhänge.
Nur kurz streift Gady die mittelalterliche Baugeschichte, was insofern überrascht, als der 1160 begonnene und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossene Bau jene unverwechselbare monumentale Physiognomie im Osten der Île de la Cité schuf, die sich trotz aller Veränderungen im Inneren wie im Äußeren wie ein roter Faden durch die Paris-Bilder der verschiedenen Jahrhunderte zieht. Die reiche Forschung zum genialen Entwurf des Pariser Bischofs Maurice de Sully und seiner Architekten kann er möglicherweise auch deshalb ignorieren, weil die Brandkatastrophe auch hier neue Publikationen initiierte, so etwa den Band von Dany Sandron und Andrew Tallon: »Notre-Dame de Paris. Neuf siècles d’histoire« oder die Neuauflage des Bildbands »Notre-Dame de Paris. Cathédrale médiévale« von Claude Gauvard und Joël Laiter, beide aus dem Jahr 2019. Einen genaueren Blick wirft Gady hingegen auf die Repräsentation der Kathedrale in der Buchmalerei des späten Mittelalters. Hier tritt ihr eminenter Rang als erstes Wahrzeichen der Königsstadt klar hervor. Wer allerdings vertiefte Analysen der Ikonografie oder gar Vergleiche zum virulenten Kathedralbau in der Île-de-France und ganz Europa erwartet, muss enttäuscht werden. Das Konzept der gesamten Monografie besteht in einer chronologischen Abfolge großformatiger Abbildungen und kleinerer Detaildarstellungen, denen jeweils eine kurze Bildbeschreibung und knappe einführende Texte beigefügt sind. Auf Anmerkungen oder weiterführende Literaturhinweise verzichtet die Darstellung, die sich somit primär an ein breites nicht-wissenschaftliches Publikum richtet.
Mit fortschreitenden Jahrhunderten nehmen vor allem die zur Verfügung stehenden Bilder aus dem Innenraum der Kathedrale signifikant zu. Die Erhöhung zur Metropolitankirche des neuen Erzbistums im Jahr 1622 fällt zusammen mit einer Steigerung der ostentativ zur Schau gestellten réligion royale und einer wahren Bilderflut in großformatigen Ölgemälden, Holzschnitten, Stichen oder Skizzenbüchern der barocken Künstler und Architekten. Seinem Forschungsinteresse gemäß liefert Gady in diesen Kapiteln einen sehenswerten Katalog des überlieferten Materials aus dem 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert. Etwa der Bau, die diversen Pläne und die Ausgestaltung des neuen Chors in den Jahren um 1700 werden zu einer aufschlussreichen architekturhistorischen Betrachtung verdichtet. Diese Qualität erreichen die späteren ebenso wie die früheren Kapitel allerdings nicht mehr. Anschaulich werden Pläne zur Neugestaltung der östlichen Île de la Cité neben große Stadtveduten des 18. Jahrhunderts und detailgetreue Innenansichten gestellt, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer häufiger im neuen Medium der Fotografie präsentiert werden. Eigene Kurzkapitel gelten wichtigen Architekten und Bauherren der neuzeitlichen Umgestaltungen, so etwa Erzbischof Louis-Antoine de Noailles, dem Architekten Jacques-Germain Soufflot oder Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc.
In der Gliederung folgt Gady dem fundamentalen Beitrag von Alain Erlande-Brandenburg zu Notre-Dame im Rahmen des von Pierre Nora initiierten Sammelwerks »Les Lieux de mémoire« aus dem Jahr 1992. Ancien Régime, Revolution, Restauration und Republik entwarfen ihre ganz eigenen Bildwelten der Pariser Kathedrale, die durch die Herrschenden für opulente Inszenierungen und Staatsakte genauso in Anspruch genommen wurde wie durch die Kunst oder den Massentourismus der Moderne.
Notre-Dame de Paris ist nicht erst seit 2019 ein komplexer Forschungsgegenstand, in dem sich die Interessen der Kunst- und Architekturgeschichte produktiv mit politischen, religiösen und kulturellen, mit urbanistischen, medienwissenschaftlichen und soziologischen Fragestellungen treffen. Dem vorliegenden Bildband gelingt es durchaus an vielen Stellen, solche Fragen mit teilweise weniger bekannten und eingängig beschriebenen Bildern wachzurufen. Allerdings verzichtet er dabei leider durchgängig auf den Dialog mit der reichen transdisziplinären oder disziplinären Forschung. Irritierend schmal fällt mit 20 Titeln die Bibliografie des Buchs aus.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jörg Oberste, Rezension von/compte rendu de: Alexandre Gady, Notre-Dame de Paris. La fabrique d’un chef-d’œuvre, Paris (Le Passage) 2021, 204 p., 180 ill., ISBN 978-2-84742-452-2, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87457