Dieses 800 Seiten starke Buch ist eine theologische Dissertation, und ihr Autor wird im Vorwort von Mgr Marc Aillet, Bischof von Bayonne, als Abbé vorgestellt. Aus dem Internet erfährt man, dass er Mitglied der Petrusbruderschaft ist.

Man konnte sehr gespannt auf dieses Werk sein, denn schon lange hat es keine Jeanne d’Arc-Geschichte mehr aus kirchlicher Feder gegeben, und die große Zeit der kämpferischen »klerikalen« Jeanne-Historiografie (Ayroles, Debout und Dunand) ist schon mehr als hundert Jahre her.

Mein Ergebnis der Lektüre ist allerdings in erster Linie eine große Enttäuschung. Zu bemängeln ist zunächst, dass dieses 800-Seiten-Werk weder ein Namens- noch gar ein Sachverzeichnis enthält. Dafür allerdings sehr praktische sechs unbedruckte Seiten am Ende, auf denen man viel notieren kann … Weiterhin ist die umfangreiche Bibliografie so stark thematisch aufgesplittert, dass es nicht leichtfällt, einen Autor oder Titel herauszufischen. Letzteres ist aber insofern nicht ganz so schlimm, als sich Jacques Olivier doch mit recht wenig Forschungsliteratur begnügt, und sehr viele der hinten aufgeführten Werke auch erstklassiger Autoren spielen für seine Darlegungen gar keine Rolle.

Eigentlich geht es in diesem Buch gar nicht um eine neue und theologisch angereicherte Geschichte der Jungfrau von Orléans, sondern um eine rein theologische Ableitung all dessen, was Jeanne d’Arc vollbracht und erlitten hat. Wobei nach meinem Empfinden der Begriff der »Theologie«, »science de la connaissance de Dieu« (S. 20), bei diesem sehr kämpferisch auftretenden Autor zu stark eingeengt wird. Jacques Olivier hat eine ganz klare Auffassung: Wir können aus den historischen Quellen genau nachvollziehen, was Gott in seiner Allmacht getan hat. So ist es für ihn unbezweifelbar wahr, dass die Sendung der Jungfrau Jeanne d’Arc direkt dem göttlichen Willen entspricht. Und alles Weitere, Taten und Leiden der Jungfrau, leiten sich daraus ab und sind ein leuchtender Beweis für Gottes ständige aktive Präsenz in dieser Welt. So sagt er in der Einleitung auch ganz ausdrücklich, dass man dem Phänomen Jeanne d’Arc nur gerecht werden kann, wenn man das Übernatürliche und dessen konkretes Einwirken auf diese Welt einsieht (S. 24). Und wenn das so ist, dann hat man beispielsweise schlicht zu akzeptieren, dass Jeanne in allem, was sie gesagt hat, wahr gesprochen und gehandelt hat, d. h. direkt von Gott inspiriert war (S. 25). So kann es nicht verwundern, dass Olivier manche Widersprüchlichkeiten in den Prozessaussagen der Jungfrau ignoriert oder überspielt. So beispielsweise die Tatsache, dass Jeanne gegen den Rat ihrer Heiligen vom Turm der Burg Beaurevoir, wo sie kurzfristig gefangen gehalten wurde, gesprungen ist – ein Ungehorsam, dessen sie sich doch selber bezichtigt. In Oliviers Bericht ist keine Rede davon, erst einige Seiten später wird kurz erwähnt, dass ihr damaliges Verhalten tadelnswert gewesen sei.

Die Erzählung der Lebensgeschichte der Jungfrau, welche die ersten ca. 100 Seiten einnimmt, entspricht weitgehend dem Standard wissenschaftlicher Darstellungen. Man hätte sich allerdings gewünscht, dass Olivier sich ein wenig mit anderen Forschern auseinandersetzte. Seine Quellen sind die zeitgenössischen Berichte und die Prozessakten, wobei er allerdings bei den Chroniken und anderen Quellen meistens nicht auf deren wissenschaftliche Editionen, sondern auf die Übersetzungen im Bd. 3 des Werkes des Jesuiten Ayroles rekurriert, dessen vor 120 Jahren entstandenes Werk »La vraie Jeanne d’Arc« für ihn ausschlaggebend bleibt. Es sei bemerkt, dass Père Ayroles dermaßen vehement reaktionäre »theologische« Positionen ad Jeanne vertrat, dass damals die Behörden des Vatikans bei den französischen Bischöfen anmahnten, dass die Heiligsprechung Jeannes durch solche Werke der unangemessenen Vorabverheiligung einer Person gefährdet sei (non cultu-Gebot). Aber in vielfacher Hinsicht ist Jacques Olivier ein direkter Nachfolger von Père Ayroles unseligen Angedenkens.

Die ungeheure »theologische« Selbstsicherheit führt, wie bereits erwähnt, dazu, dass sich der Autor mit der Forschungsliteratur und anderen Ansichten kaum auseinandersetzt, nur manchmal, dann allerdings auf sehr polemische Art. Vgl. beispielsweise S. 266 die lange Fußnote zur Frage, ob Jeanne abgeschworen hat oder nicht. Das ist ja immer noch der entscheidende Punkt, denn niemand darf heiliggesprochen werden, der im Glauben schwankend geworden ist. Und mehr als 20 Jahre lang hat die Abschwörung der Jungfrau angesichts des Scheiterhaufens den Heiligsprechungsprozess behindert, weil die vatikanischen advocati diaboli genau diesen Punkt betonten. Irgendwann verlief aber dieses Bedenken im Sande, und man möchte wissen, was damals geschehen ist, damit Jeanne gleichwohl heiliggesprochen werden konnte. Für Jacques Olivier ist absolut klar, trotz der dagegensprechenden direkten Quelle, nämlich Jeannes Prozessaussage, dass sie auf keinen Fall abgeschworen haben kann (S. 93f.). Mit Geschichtswissenschaft hat solches Räsonieren nichts mehr zu tun.

Der Verfasser hat dankenswerterweise in einem »Annex« die gesamten Serien der publizierten Protokolle der Heiligsprechungs-Kommission des Vatikans aufgeführt, deren Struktur zuvor sehr schwer zu entschlüsseln war. Denn in öffentlichen Bibliotheken Europas ist nur noch ein einziges Exemplar dieser Gesamtserie vorhanden, in der Mediathek der Stadt Orléans, das der Verfasser einsehen durfte. Er hat es aber leider unterlassen, die näheren Umstände der Heiligsprechung mithilfe dieser Protokolle zu erläutern.

Für Olivier läuft die gesamte Geschichte der Jungfrau auf deren Heiligsprechung hinaus, die er als »Schlussstein« ihrer Präsenz in der Erinnerung der Menschheit ansieht (S. 105). Dass vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gerade die kirchliche Seite (von äußerst seltenen Ausnahmen abgesehen) die Jungfrau alles andere als heilig fand, wird dabei einfach übersehen. So ist seine Schlussfolgerung schlicht unrichtig, dass es eine durchgehende Verehrung Jeannes als Heilige der katholischen Kirche gegeben habe (S. 106–110).

Hier nur noch zwei weitere Beispiele, um zu zeigen, dass diese Arbeit nichts mit historischer Wissenschaft zu tun hat und wohl auch weniger »theologischen« Charakters ist, sondern eher dem Genre Erbauungsliteratur zuzuordnen ist. Zunächst die berühmte Geschichte des Schwertes der Jungfrau, das sie hinter dem Altar der Kirche von Sainte-Catherine-de-Fierbois ausgraben ließ, weil ihre Stimmen ihr diesen Ort verraten hatten. Für Olivier ist das eine schlichte Tatsache, sodass er nicht einmal diskutieren muss, was die Jeanne-Forschung seit 600 Jahren bewegt, nämlich, ob sie vielleicht mit der schlicht irdischen Information vertraut war, dass in dieser Wallfahrtskirche oft Ritter ihre Schwerter den Heiligen geweiht und dort zurückgelassen hatten. Der ärgste Fehler ist meines Erachtens allerdings seine Beschreibung der Tatsache, dass Jeanne Männerkleidung trug und sich durch nichts davon abbringen ließ. Dazu ist sie im Prozess auch mehrfach befragt worden, wo der habit d’homme schließlich zu einer Art Hauptanklagepunkt wurde. Und sie hat klar gesagt, dass sie das aus eigener Entscheidung getan habe und »niemand anders dafür verantwortlich sei«. Für Olivier ist das viel einfacher: Jeanne hat die Männerkleidung angezogen, weil Gott ihr »ausdrücklich so befohlen hatte« (S. 137). Die von ihm zitierte Stelle aus den Prozess-Protokollen sagt aber genau das nicht aus. Und es wäre sicherlich hilfreich gewesen, hätte er die wichtigen Veröffentlichungen zu diesem Problem, etwa Xavier Hélary oder Françoise Michaud-Fréjaville, zumindest zur Kenntnis genommen bzw. diskutiert.

Ab den 150er-Seiten wird dann in allen Einzelheiten erklärt, wer der »Rat« (conseil) der Jungfrau gewesen ist, nämlich die Heiligen Michael, Katharina und Margret. Das ist kirchenenzyklopädisch interessant, aber der Verfasser verliert kein Wort darüber, wie sehr zur Zeit von Jeanne d’Arc der hl. Michael zum Schutzpatron Frankreichs wurde und wie für sie nichts natürlicher war als gerade ihn für den wichtigsten Ratgeber ihrer Mission zu halten. Das wäre ja auch eine allzu einfache »naturalistische« Ableitung für jemanden, der in allem tatsächlichen Geschehen den direkten Ratschluss Gottes zu erkennen glaubt.

Jeanne hat sich immer als fille-Dieu bezeichnet, als jemand, der in einer direkten Beziehung zu Gott lebt und daraus seine unvergleichliche Kraft zieht. Seit vielen hundert Jahren wird unter Experten, Historikern wie Theologen, darüber gestritten, ob diese Selbsteinschätzung nicht doch das ist, was ihre Ankläger im Verdammungsprozess als superbia, als Todsünde des Hochmuts, qualifizierten. Olivier glaubt, diese Problematik einfach ignorieren zu können, indem er autoritativ glaubt, dass Jeanne eben tatsächlich eine »Gottestochter« gewesen ist.

Es wäre nützlich gewesen, auch theologisch darüber nachzusinnen, welchen Rang denn dann die Kirche als alleinige Wahrerin der Wahrheit Gottes in einem solchen Bezug einnimmt. Hätte Jeanne dem Papst gehorcht, hätte er ihr gesagt, dass ihre Stimmen nicht von Gott kommen und dass sie auf jeden Fall der Kirche gehorchen müsse? Sicherlich nicht!

Der Rezensent und wohl viele andere hatten so sehr gehofft, dass diese theologische Arbeit versuchen würde, auf all diese Fragen eine historisch informierte Antwort zu geben. Das ist leider nicht geschehen – was natürlich nicht ausschließt, dass sich auch in diesem Werk der propaganda fidei immer weder Einzelheiten finden, die für den Experten interessant sind, aber das sind und bleiben leider immer nur Einzelheiten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gerd Krumeich, Rezension von/compte rendu de: Jacques Olivier, Le prophétisme politique et ecclésial de Jeanne d’Arc. Préface de Mgr Marc Aillet, Paris (Les éditions du cerf) 2021, 804 p., ISBN 978-2-204-13855-0, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87467