Der Sammelband vereint Studien aus dem Wiener Spezialforschungsbereich »Visions of Community: Comparative Approaches to Ethnicity, Region and Empire in Christianity, Islam and Buddhism (400–1600 CE)« von 2011 bis 2019. Ein Schwerpunkt der Arbeiten lag auf dem Zusammenhang von »Geschichtsschreibung und Identität«, also der Frage, welchen Beitrag die selektive Aneignung und Darstellung der Vergangenheit für Selbstverortung und Zukunftsperspektiven sozialer Gruppen geleistet hat. Die Erträge werden in sechs Sammelbänden veröffentlicht; der zu besprechende vierte Band dehnt den Fokus über Westeuropa aus und soll eine »mehr globale Perspektive« einnehmen, indem die historiografischen Traditionen von China, Japan, Iran, Südarabien, Syrien und Byzanz (u. a.) komparativ einbezogen werden (S. 1). Der Vergleich von weithin parallel entstandenen Werken besonders aus der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends sollte, wie der Herausgeber Walter Pohl am Beginn darlegt, die Einordnung der jeweiligen »Identität« in ein »größeres soziales Ganzes« einbeziehen; es war also auch eine universalhistorische Perspektive auf die Anfänge eingeplant, sei diese bezogen auf ein Reich, eine Lehrtradition oder eine Religionsgemeinschaft. Die methodischen Ansprüche eines zugleich syn- wie diachronen Ansatzes waren enorm. Wie haben sie die Beteiligten eingelöst?
Die meisten Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen konzentrieren sich auf die eigene Überlieferung. Bernhard Scheid (S. 83–99) untersucht die japanische Nationalhistoriografie des frühen 8. Jahrhunderts, entstanden unter dem Eindruck von Vorlagen der chinesischen Tang-Dynastie (618–907). Im Unterschied zu dieser rekurrierte die japanische auf die Ursprünge des Staates in einem Pantheon eigener Götter. Michael Cook (S. 123–135) zeigt in einem diachronen Vergleich zweier iranischer Geschichtswerke (von ca. 840 und von vor 1092), wie mit unterschiedlichem Rückgriff auf den vorislamischen Zoroastrismus die eigene Identität zum Ausdruck gebracht werden sollte. Nach Daniel Mahoney (S. 137–156) hat der südarabische Historiker al-Hamdānī (10. Jh.) in seinem zehnbändigen Geschichtswerk »al-Iklīl« die jemenitische Geschichte vor dem Islam durch die Sammlung von Genealogien, Dichtungen, Bauwerken, Inschriften und Grabbeschreibungen vergegenwärtigt. Emmanuel C. Bourbouhakis (S. 197–218) studiert wiederum in einem diachronen Vergleich zwei byzantinische Inventare oder Kompendien älterer Überlieferung: die »Bibliothek« des Intellektuellen, Patriarchen und Politikers Photios (um 900) und die excerpta, thematisch geordnete Klassikerzitate, die in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts von unbestimmten Autoren geschaffen wurden. In beiden wurde der Zusammenhang des mittelalterlichen Reiches mit der griechisch-römischen Vergangenheit hergestellt, und zwar in einer Epoche ohne eigene byzantinische Geschichtsschreibung. Den Anschluss an das Annalenwerk des Theophanes aus dem frühen 9. Jahrhundert suchten dann die anonymen scriptores post Theophanem im Auftrag des Kaisers Konstantin VII. (913–959). Wie Yannis Stouraitis zeigt (S. 219–246), wollte Konstantin die Kaiserreihe, besonders die eigene Dynastie, in weltgeschichtliche Perspektive von der Schöpfung bis in seine eigene Zeit gestellt sehen. Es handle sich um die »normative Vision einer zentralisierten kaiserlichen Ordnung« mit ökumenischem Rang (S. 242). Vom universalhistorischen Ansatz des Gesamtunternehmens dispensiert haben sich Simon MacLean mit ihren Beiträgen über die Emergenz der »Lotharingier« (S. 247–274) und Matthias M. Tischler über die iberische Handschriftentradition, die sich bei eingehender Erforschung für ein verfeinertes mental mapping intellektueller Vielfalt im christlich-islamischen Spannungsfeld eignen würde (S. 275–305). Dem Thema e contrario nähert sich Sarah Bowen Savant mit ihrer Studie »Iran’s Conversion to Islam and History Writing as an Art for Forgetting« an (S. 101–121). Sie demonstriert eindrucksvoll die Techniken des Vergessens durch Überschreiben, Überfrachten (crowding), Abstraktion und die Nachweise des Wiedergebrauchs von älteren Texten durch digitale Instrumentarien (Wortstatistiken).
Drei Autoren haben die Herausgeber eigene Vergleichsstudien gestattet, in denen jeweils Byzanz einen Bezugspunkt darstellte. Scott Fitzgerald Johnson vergleicht die west- und ostsyrischen Historiografien, die jeweils Gesellschaften ohne Königsherrschaft betrafen, und ordnet sie in ein »großes byzantinisches Zelt« differenter Kulturen ein (S. 157–195). Während die Angehörigen der westsyrischen (jakobitischen) Kirche auf das annalistische Modell des spätantiken Autors Eusebius zurückgriffen und kirchlicher und weltlicher Geschichte Beachtung schenkten, fixierte sich die ostsyrisch-persische Christenheit auf die Sukzession der Patriarchen und Äbte als Ordnungsschema der eigenen Geschichte. Der Sinologe Q. Edward Wang wagt einen Vergleich der chinesischen Nationalgeschichtsschreibung (guoshi), nach Auflösung des geeinten Han-Reiches (nach 220), mit den »Nationalhistoriografien« der europäischen Völkerwanderungsreiche (S. 23–42). Diese Linie weiter ausziehend, untersucht Randolph B. Ford die »Kriege« des griechischen Geschichtsschreibers Prokop († nach 562) und das dem Fang Xuanling (578–648) zugeschriebene Kompendium »Jinshu«. Während Prokop trotz seiner engen Bindung an den Kaiserhof in der Lage war, germanische Königinnen und Könige wie Theoderich oder Amalaswintha ohne Rückgriff auf Barbarenstereotype zu würdigen, also die Auflösung des alten Einheitsreiches anzuerkennen, bewältigte Fang Xuanling den temporären Zusammenbruch des alten Reiches nach der Han-Dynastie, indem er die nomadischen Eindringlinge aus dem Norden xenophobisch diskreditierte. Der Vergleich ist allerdings schief angelegt, da sich Prokop mit Gegenwartserfahrungen auseinandersetzt, während der chinesische Autor über drei Jahrhunderte zurückliegende Vorgänge, und im Wissen von der neuen Reichseinigung unter den Sui und den Tang, geschrieben hat (S. 43–82).
So instruktiv die Einzelstudien zweifellos sind, so ratlos ist der Leser, was er aus ihren Ergebnissen verallgemeinernd schlussfolgern soll. Hier hilft ihm auch Walter Pohl nicht weiter, der den Band statt mit einer kritischen Auswertung mit einem »Essay« abgeschlossen hat, der Elemente einer Zusammenfassung mit eigenen Überlegungen zum interkulturellen historischen Vergleich überwuchern ließ (S. 307–368). Pohl sucht wiederholt das »Modell chinesischer Staatsgeschichten« (S. 315 u. ö.) als Kontrastpunkt zu Werken westlicher Geschichtsschreibung, obwohl dieses gerade nicht im Fokus seiner Autoren Wang und Ford gestanden hat. Nicht zum ersten Mal belegt der Band, wie berechtigt die Warnung Marc Blochs vor den Herausforderungen des universalen Vergleichs gewesen ist (1927). Das soll nicht heißen, dass diese Aufgabe prinzipiell nicht zu bewältigen und sicher auch notwendig wäre; in letzter Zeit hat sich aber gezeigt, dass transkulturelle Beziehungsstudien die Erwartungen an eine globalisierende historische Sichtweise einfacher und überzeugender erfüllen können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Michael Borgolte, Rezension von/compte rendu de: Walter Pohl, Daniel Mahoney (ed.), Historiography and Identity, Vol. 4: Writing History Across Medieval Eurasia, Turnhout (Brepols) 2021, X–378 p., 5 b/w ill., 1 tabl. (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 30), ISBN 978-2-503-58658-8, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87469