Der zu besprechende Band geht auf Diskussionen und Workshops innerhalb der »Medieval and Early Modern Research Group« am Somerville College in Oxford zurück. Als zentrales Thema benennen die beiden Herausgeberinnen in der Einleitung (S. 1–13) »Momente der multiplen Zeitlichkeit« (»moments of multiple temporality«, S. 3). Thematisch schließen die Aufsätze an jüngere Studien zu Zeit, Zeitlichkeit und/oder Zeitwahrnehmung im Mittelalter an. Auf diesen aufbauend, soll die Vorstellung einer gefühlten und nicht gemessenen Zeitvorstellung im Mittelalter (im Gegensatz zu einer auf Messungen beruhenden Vorstellung als Kennzeichen der Renaissance nach Benedict Anderson) weiter hinterfragt werden (S. 7f.). Versammelt sind Studien, die zwar zeitlich und räumlich weit ausgreifen, aber doch einen gewissen Schwerpunkt auf das hochmittelalterliche England legen, gegliedert in die Sektionen »Multiple Temporalities«, »Lyrical Time«, »Visionary and Liturgical Time« und »The Materiality of Time«.

Der erste Abschnitt umfasst drei Aufsätze: Katharine Sykes befasst sich mit Zeitlichkeit, Prophetie und Tod in der »Vita Ædwardi Regis«(S. 17–32). Der wohl noch zu Lebzeiten Eduards »des Bekenners« (1003–1066) begonnene Text weist gerade in den Bezügen zur zeitgenössischen Gegenwart besondere Eigenheiten auf – so wird unter anderem die normannische Eroberung Englands 1066 nicht erwähnt. Benjamin Thompson setzt sich in seinem Beitrag mit den verschränkten Zeitebenen von Fürbitten, Ablässen und Jenseits auseinander (S. 49–71). Er versteht Schenkungen zur Memorialsicherung dabei als Austausch verschiedener Zeitlichkeiten: endliche irdische Besitzungen gegen Beistand im unendlichen Nachleben. Philippa Byrne analysiert die Briefe des englischen Franziskaners Adam Marsh (S. 33–48). Der Vielschreiber war als erster franziskanischer Lektor in Oxford gut vernetzt und korrespondierte mit den Größen seiner Zeit (u. a. Robert Grosseteste, Simon de Montfort, Bonaventura oder Königin Eleonore). Da sich keines seiner Werke erhalten hat, wendet sich Byrne seinen Briefen zu, um darin Vorstellungen von Zeit nachzuspüren. Hierbei kommt sie überzeugend zum Schluss, dass Adam Marsh nicht als moderater Anhänger der Lehren Joachims von Fiore verstanden werden sollte, wie dies einst Majorie Reeves und Morton Bloomfield vorschlugen, sondern mehr als Individuum, das versuchte, sich in den Komplexitäten und der Vielfalt von Zeit(‑Vorstellungen) zurecht zu finden.

Auch die zweite Sektion »Lyrical Time« setzt sich aus drei Beiträgen zusammen: David Bowe untersucht die Verwendung des Gegenwärtigen in den Gedichten des Poeten Guittone d’Arezzo, die sich mit einem Wandel im eigenen Standpunkt verschob; als Guittone zu Fra Guittone wurde, wichen die erotischen Themen in seinen Texten religiösen Ausführungen (S. 75–90). Manuela Gragnolati und Francesca Southerden suchen in einem gemeinsamen Beitrag nach Mustern der Zeit und Zeitverwendung, hier kombiniert mit der Frage nach den damit verknüpften Sehnsuchtsvorstellungen, in Sonetten Guido Cavalcantis, Dantes und Francesco Petrarcas (S. 91–106). Die Herausgeberin Almut Suerbaum wendet sich schließlich den strophischen religiösen Liedern Meister Eckharts und der sogenannten Dominikanerschule von Köln sowie deren Vermittlung von Zeitlichkeit zu (S. 107–124).

Der dritte Abschnitt »Visionary and Liturgical Time« bietet mit Catherine Mary MacRoberts Ausführungen zum frühen Kirchenslawisch (S. 159–182) einen Beitrag zur liturgischen und mit Annie Sutherlands und Jonas Hermanns Aufsätzen zwei Studien zu visionären Zeitauffassungen. Sutherland gibt hierbei einen breiteren Überblick, da sie sich den Zeitvorstellungen in einer Reihe von visionären Texten widmet, die als die »Wooing Group« bekannt sind (S. 127–143). Mit dem sogenannten Christine-Ebner-Korpus nimmt Hermann ebenfalls mehrere Texte in den Fokus. Es handelt sich um Schriften, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts im bayerischen Kloster Engelthal von und über die Dominikanerin Christine Ebner und ihre Visionen verfasst wurden (S. 145–157). Hermann thematisiert hier die Wahrnehmung und Einschätzung der eigenen Gegenwart in den Quellen und gelangt zu dem überraschenden Schluss, dass diese nicht als finster, sondern im Gegenteil als die gnadenreichste Zeit seit dem Sündenfall wahrgenommen wurde, da nun einfache Nonnen spirituelle Gaben erhielten, die sonst den Heiligen vorbehalten gewesen seien.

Die letzte Sektion wendet sich schließlich der »Materiality of Time« zu: Racha Kirakosian untersucht die Ostervision Gertrudes von Helfta, in der das religiöse Leben der Zisterzienserin in einem Kleidungsstück versinnbildlicht wird (S. 185–202). Jede vollbrachte fromme Tat wird durch einen Faden repräsentiert, wodurch das Kleid auch zum materiellen Ausdruck von Zeit wird. Jim Harris wendet sich in seinem Text dem Passionszyklus von San Nicoló del Boschetto (heute Genua, Gemeinde Cornigliano) zu (S. 203–227). Dieser Zyklus ist auf 14 Stoffbahnen gemalt (Leinen, oft mehr als vier Meter hoch und breit) und wurde wahrscheinlich innerhalb einer Kirche aufgehängt. Die an Holzschnitte Albrecht Dürers angelehnten Darstellungen bieten dabei eine Szenerie, die es bei der Betrachtung ermöglicht, neben der Gegenwart auch Vergangenheit und Zukunft des Abgebildeten miteinzubeziehen. Beschlossen wird der Band durch ein alle Beiträge umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 229–251) sowie ein Register (S. 253–260).

Gerade das Register führt nochmals die Bandbreite der Beiträge vor Augen. Es ist sicherlich nützlich, die verschiedenen Bezugnahmen auf den allgegenwärtigen Augustinus und seine Äußerungen zu Zeit und Zeitlichkeit durch das Register in den verschiedenen versammelten Texten nachvollziehen zu können. Bereits in der Einleitung machen die Herausgeberinnen darauf aufmerksam, dass sich die Beschäftigung mit dem Kirchenvater durch alle Beiträge des Bandes zieht (S. 3). Dies macht das Fehlen eines die Ergebnisse zusammenführenden und diskutierenden Schlusskapitels leider umso schmerzhafter bewusst. Die meist thematisch, oftmals aber auch räumlich und zeitlich voneinander entfernt liegenden Einzelbeiträge werden sicherlich für Expertinnen und Experten einzelner Gebiete weiterführend sein. Die Chance, aus dieser Vielfalt einen gebündelten Beitrag zur Wahrnehmung verschiedener Zeitlichkeiten im Mittelalter zu formen, wurde leider nicht genutzt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Manuel Kamenzin, Rezension von/compte rendu de: Annie Sutherland, Almut Suerbaum (ed.), Medieval Temporalities. The Experience of Time in Medieval Europe, Woodbridge (The Boydell Press) 2021, XV‑260 p., 7 b/w ill., ISBN 978-1-84384-577-5, GBP 75,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87474