Zur Klärung von Vorbild-Abbild-Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Werken bei nicht bekannten Entstehungszusammenhängen und nicht bezeugten Autorenschaften wendet die Kunstgeschichte eine von zwei möglichen Arbeitshypothesen an: Entweder reisten die entwerfenden oder ausführenden Künstler von Ort zu Ort, oder die Rezeption des Originals basierte auf der Vermittlung anschaulicher Vorlagen, die auch ohne das Zutun des ersten Urhebers durch andere mitgeführt und weitergegeben werden konnten. Die Werkanalyse rekonstruiert für gewöhnlich aus diesen Hypothesen und aus den jeweils stichhaltig erscheinenden historischen Rahmenbedingungen die Beziehungen der Artefakte zueinander als sinnstiftende Herkunfts- und Entwicklungsnarrative. So unentbehrlich diese Methode ist, so sehr neigt das Bemühen um Begründung und Erklärung der Form bisweilen zur Vermengung von Tatsächlichem und lediglich Vermutetem.
Terrier Aliferis stellt diese Narrative auf den Prüfstand. Der Untertitel seines Buches formuliert die Frage, ob im Jahrhundert zwischen 1150 und 1250, als sich die Gotik als Bau- und Darstellungsstil weit über Europa verbreitete, die mobilen Künstler für die Wanderung der Form in den Metiers der Bildkünste eher verantwortlich waren als grafische oder dreidimensionale Modelle. Die Antwort ist eindeutig: Vorlagensammlungen, die explizit als Muster für das Nachbilden von Kunstwerken gedacht waren, sind so gut wie gar nicht nachzuweisen. Die Spuren von Künstlern, die auf ihren Reisen eigenhändige Werke hinterließen oder solche, die nach ihren Anweisungen durch lokale Kräfte erstellt wurden, sind aber in einigen Fällen so eindeutig auszumachen, dass man diese Art der Formvermittlung als die gängige ansehen muss.
Der Autor hat sich zu dieser Thematik in den letzten Jahren wiederholt an prominenter Stelle positioniert. Ein guter Teil des nunmehr behandelten Stoffes greift auf diese Beiträge zurück. Sie bilden Kernbestandteile der Kapitel 1 »Ampleur des transferts artistiques«, 2 »Itinéraires d’artistes à travers les œuvres signées« und 4 »Les carnets de modèles«. Hinzu tritt als drittes und ausführlichstes Kapitel eine Studie zur Portalplastik der Chartreser Westfassade.
Einleitend macht der Autor mit den Schwierigkeiten bekannt, die seiner Studie entgegenstehen: mit den Problemen fehlenden Kontextwissens. Sie behindern eine wirklich gewinnbringende Anwendung jener Transfertheorien, welche die Kulturwissenschaften als interdisziplinäre Arbeitsmittel entwickelt haben. Terrier Aliferis verlässt sich eher auf die bewährten Mittel der vergleichenden Stilanalyse.
Im ersten Kapitel wird anhand überwiegend ikonografischer Besonderheiten aufgezeigt, dass sowohl in direkten Nachbarschaften als auch über weite Distanzen hinweg und gattungsübergreifend die Ausformulierung übereinstimmender Darstellungsmodi nachweisbar ist, die der Autor auf die Weitergabe von Künstler zu Künstler zurückführt. Dass zu Kopierzwecken verbreitete Vorlagen keine Rolle spielten, kann mit einigem Recht daraus geschlossen werden, dass die stilistischen Differenzen zwischen den Beständen sehr groß sind. Terrier Aliferis fasst das Phänomen vielmehr im Rückgriff auf Richard Krautheimer unter dem Begriff des »Zitats«, der für die bedeutungsvolle Wiederholung eines Bilddetails als pars pro toto der rezipierten Gesamtdarstellung steht. An dieser Stelle hätte man wohl mit Gewinn erörtern können, in welcher Weise solcherlei Zitate Konventionalisierungsprozessen unterworfen sind und ihre vormalige Bedeutung verlieren.
Das zweite Kapitel widmet sich der Rekonstruktion von Künstleritineraren. Wichtigster Kronzeuge für raumgreifende Bewegungen von Künstlern ist der Goldschmied Nikolaus von Verdun, der an einem Retabel der Abteikirche Klosterneuburg und an einem Reliquiar der Kathedrale von Tournai (1181) gleichermaßen seine Signatur hinterließ. Terrier Aliferis entfaltet das ganze Repertoire stilanalytischer Komparatistik, um diese beiden biographischen Fixpunkte durch Werke des Oberrheins, der Champagne und des Rhein-Maas-Raumes so miteinander zu vernetzen, dass die jeweils rekonstruierten Aufenthalte des Meisters und seiner Werkstatt zugleich als Datierungshinweise für die zugeschriebenen Werke gelten können. Vieles davon bleibt äußerst hypothetisch.
Ein Gleiches versucht der Autor mit dem Goldschmied Hugues de Oignies, dem sich drei zwischen 1228 und 1240 gefertigte liturgische Geräte sicher zuweisen lassen, und mit Villard de Honnecourt, dessen Skizzenbuch von einer Reise nach Ungarn berichtet und neben vielen Reimser Bauformen Hinweise auf die Kenntnis der Architektur in Laon, Cambrai, Vaucelles, Meaux, Chartres und Lausanne enthält. Es bedarf der keineswegs gesicherten Überzeugung, dass zu dieser Zeit noch keine Werkrisse auf Pergament kursierten, um zu dem Schluss zu kommen, all diese Orte habe Villard persönlich zwischen dem zweiten und dem vierten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts aufgesucht.
Der größte Anreiz für das Reisen der Künstler war die Eröffnung einer Großbaustelle mit ihren vielfältigen und aufwändigen Bildprogrammen. Mit dem umfangreichsten Kapitel seines Buches wagt Terrier Aliferis sich an nichts Geringeres als an eine Neuzuschreibung der skulpturalen Ausstattung der Chartreser Westfassade – des überaus einflussreichen, extensiv erforschten Hauptwerkes frühgotischer Plastik. Terrier Aliferis ordnet die Figuren- und Reliefgruppen den Händen kooperierender Bildhauer aus Burgund, Étampes, Saint-Denis, Bourges und Paris zu und unterstreicht damit seine Auffassung, dass sie alle reisende Künstler waren. Eine Werkgruppe bleibt unbestimmt. In geradezu altertümlicher stilhistorischer Diktion werden die Bildhauer »Meister« genannt, so, als seien sie allesamt mit einer Werkstatt abhängiger Handwerker angetreten.
1902 äußerte Julius von Schlosser die Überzeugung, dass Musterbücher bei der »künstlerischen Überlieferung im späten Mittelalter«1 eine essentielle Rolle gespielt haben dürften. Damit war die Idee in der Welt, dass ein Teil der Zeichnungen und grafischen Blätter, die bereits in hochmittelalterlichen Manuskripten in ganz unterschiedlichen Text-Bild-Beziehungen auftauchen, als Vorlagen für die Bildproduktion gefertigt worden seien. Terrier Aliferis nimmt in seinem vierten Kapitel einige unter ihnen – und mit besonderer Sorgfalt das sogenannte Wolfenbütteler Musterbuch – sehr genau unter die Lupe. Kaum jemals findet er direkte Beziehungen zwischen Modell und möglicher Kopie. Die vermeidlichen Muster dienten, so schließt er, eher als Erinnerungsstützen für den eigenen Gebrauch, als Arbeitsproben beim Werben um einen Auftrag oder als ikonografischer Leitfaden für ein spezifisches Skriptorium.
Damit legt sich Terrier Aliferis eindeutig fest: Die rasante geografische Verbreitung der gotischen Bilderflut ist nach seiner Auffassung im Wesentlichen auf die Mobilität der Künstler und auf ihre Fähigkeiten des Memorierens visueller Erfahrung und kreativer Akkulturation zurückzuführen.
Das virtuose Spiel des Autors auf der Klaviatur der klassischen Stilgeschichte nötigt großen Respekt ab. Doch beschleicht den Leser gelegentlich ein leiser Zweifel daran, ob die Studie nicht eine breitere methodologische Basis verdient hätte als die niemals verlassene Insider-Perspektive der Formgeschichte, deren erkenntnisleitende Hypothesen hier evaluiert werden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Norbert Nußbaum, Rezension von/compte rendu de: Laurence Terrier Aliferis, Questions de mobilités au début de la période gothique. Circulation des artistes ou carnets de modèles?, Turnhout (Brepols) 2020, 164 p., 124 ill. (Les études du RILMA, 11), ISBN 978-2-503-59141-4, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2022/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87475