»Erinnerungsgesetze«, im Französischen seit 2005 begrifflich geprägt als lois mémorielles, sind mittlerweile zu einem eigenen Gegenstand der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung geworden1. Während die Forschungen zu den korrespondierenden Erinnerungskulturen und -politiken zumeist auf die nationalstaatliche Ebene fokussieren, verspricht der vorliegende Band eine programmatische transnationale Erweiterung im europäischen Rahmen.
In einem einleitenden Überblick widmet sich Sébastien Ledoux unter dem Titel »Normer le passé au présent« einer »Genealogie der europäischen Erinnerungsgesetze« und schlägt dabei einen Bogen vom Edikt von Nantes (1598) bis in die vielfältigen erinnerungspolitischen Debatten der Gegenwart. Die Beiträge des Bandes sind in drei Sektionen gegliedert, und zwar erstens »Osteuropa«, zweitens »Westeuropa« und drittens die »Europäische Union«.
Der Beitrag von Nikolay Koposov analysiert die Genese postkommunistischer Erinnerungsgesetze in Russland, die sich vor allem auf den Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Ära beziehen, seit den 1990er Jahren und insbesondere im Zeichen der Präsidentschaft Wladimir Putins. Dabei setzt er sie explizit in einen transnationalen Beziehungsrahmen mit den Erinnerungsgesetzen der benachbarten osteuropäischen Staaten und interpretiert die russischen Erinnerungsgesetze letztlich gar als Reaktion auf diese. Demnach dienten vor allem die Erinnerungsgesetze der dritten und vierten Präsidentschaft Putins der Rehabilitation der sowjetischen Geschichte und der damit verbundenen russischen Hegemonie in Osteuropa.
Kornelia Kończal widmet sich in ihrem Beitrag den Erinnerungsgesetzen in Polen seit dem Ende der 1990er Jahre. Dabei fokussiert sie die Gesetze, die sich gegen die Leugnung nationalsozialistischer und kommunistischer Verbrechen sowie gegen die Verbreitung »kommunistischer Propaganda« richten. Während sie ersteres als Europäisierung der Erinnerungspolitik interpretiert, beschreibt sie letzteres als Ausdruck der Regionalisierung der Erinnerungspolitik. Angesichts des 2011 eingeführten Gesetzes zu den »soldats damnés« und des 2018 verabschiedeten Gesetzes zur Shoah diagnostiziert sie eine dezidierte »Ethnisierung« und »Nationalisierung« der Erinnerungspolitik in Polen sowie schließlich insgesamt die Entstehung eines »régime victimo-héroique« der nationalstaatlichen Erinnerungspolitik.
Emmanuel Droit analysiert die Geschichte der deutschen Erinnerungsgesetze vor allem bezogen auf die Shoah vor dem Hintergrund eines »nationalisme négatif« und den damit verbundenen Auseinandersetzungen um die Frage einer deutschen Identität. In diesem Zusammenhang rekonstruiert er die Entstehung des Paragrafen 130 StGB zur antisemitisch und rassistisch motivierten »Volksverhetzung« aus dem antisozialistischen Paragrafen aus dem Kaiserreich, der sich gegen die »Aufhetzung zum Klassenkampf« richtete. Im Fokus steht dabei die Ausweitung dieses Paragrafen auf die Strafbarkeit der Leugnung oder Relativierung des Holocaust im Besonderen und der nationalsozialistischen Verbrechen im Allgemeinen. Den jüngeren Debatten um Erinnerungspolitik und -gesetze widmet sich der Beitrag schließlich vor allem bezogen auf die Anerkennung des »génocide arménien« sowie insbesondere im Hinblick auf die kontroversen Debatten um eine »(un)mögliche Anerkennung« des kolonialen Völkermords an den Herero und Nama, die schließlich 2021 im Rahmen von Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia tatsächlich erfolgt ist.
Stéphane Michonneaus Beitrag befasst sich mit den Erinnerungsgesetzen in Spanien bezogen auf die Franco-Diktatur und den Prozess des Übergangs zur parlamentarischen Demokratie. Den Ausgangspunkt bildet dabei das Gesetz zur Amnestie der Verbrechen unter der Franco-Diktatur, die als Ausdruck einer »politique du silence« paradoxerweise gerade nicht die Erinnerung an die Verbrechen der Franco-Diktatur zum Schweigen gebracht, sondern entscheidend dazu beigetragen habe, die Erinnerung daran lebendig zu halten. Seit 1995 habe schließlich eine Ausweitung der Erinnerung dergestalt stattgefunden, dass die Verbrechen aus dem »Bürgerkrieg« gemeinsam mit den Verbrechen in der darauffolgenden Franco-Diktatur erinnert worden seien. Seit 2012 sei vor allem die juristische Dimension der Erinnerungspolitik bezogen auf die Franco-Diktatur stärker im Rahmen des Europarats und der UN internationalisiert worden. Insgesamt interpretiert Michonneau das Amnestie-Gesetz von 1977 als Versuch eine »Stunde null« als Ausgangspunkt einer neuen demokratischen Gesellschaft zu schaffen und damit als Ausdruck einer »futuristischen Historizität« im Sinne François Hartogs.
Geoffrey Grandjean beschreibt die belgischen Erinnerungsgesetze ausgehend von der analytischen Differenzierung zwischen der staatlichen Ausübung von »contraintes directes«, die wiederum durch Sanktionen oder präskriptiv erfolgen kann, und der Ausübung von »contraintes indirectes latentes«. Als Beispiele für »contraintes directes« durch Sanktionen betrachtet er das Gesetz von 1995 zur Strafbarkeit der Leugnung, Relativierung oder Rechtfertigung des nationalsozialistischen Völkermords während des Zweiten Weltkriegs. Als Beispiele für »contraintes prescriptives« analysiert er das Gesetz zur Erinnerung an den Holocaust (2003), das Gesetz zur Erinnerung an die belgischen Kolonialverbrechen (2000) und das Dekret von 2009 zur Erinnerung an Genozide, »crimes contre l’humanité«, und Kriegsverbrechen sowie zur Erinnerung an die Widerstandsbewegungen gegen diese Verbrechen. Mit den letztgenannten rechtlichen Bestimmungen sollten vor allem die Forschung und Bildung im Sinne der Stärkung einer demokratischen Gesellschaft gefördert werden. Als Beispiele für »contraintes indirectes latentes« führt der Autor schließlich die Gesetze von 1998 und 2015 zur Erinnerung des Völkermords an den Armeniern auf. Diese Gesetze charakterisiere, dass sie zunächst lediglich der Anerkennung einer historischen Tatsache dienten und nur in Verbindung mit anderen Gesetzen rechtliche Konsequenzen zeitigen könnten.
Christine Cadot widmet sich in ihrem Beitrag dem Europäischen Parlament als einer »arène mémorielle secondaire«. Darin rekonstruiert sie die zunehmende Formierung des Europäischen Parlaments als eines eigenständigen Akteurs innerhalb des Feldes konkurrierender Erinnerungspolitiken. Als ein zentrales Datum erscheint dabei 2004 mit der Osterweiterung der EU, die auch mit einer Pluralisierung der Erinnerungspolitik einhergegangen sei, insofern die seit den 1980er Jahren »westlich« geprägte Erinnerungspolitik, mit ihrem Fokus auf Holocaust und NS-Verbrechen, durch eine »osteuropäische« Perspektive herausgefordert worden sei, die weitgehend auf eine erinnerungspolitische Vergleichbarkeit nationalsozialistischer und stalinistischer Verbrechen zielte. Vor diesem Hintergrund interpretiert die Autorin die semantisch vor allem durch »weiche« Formulierungen charakterisierte »Resolution sur l’importance de la mémoire européenne pour l’avenir de l’Europe« als Ausdruck der erinnerungspolitischen Schwäche des EU-Parlaments sowohl gegenüber den Nationalstaaten als auch gegenüber der EU-Kommission. So verortet sie das Europäische Parlament gleichsam in einem zweifach gelagerten erinnerungspolitischen Spannungsfeld, und zwar erstens institutionell zwischen dem Streben nach Eigenständigkeit und faktischer Ohnmacht, sowie zweitens semantisch zwischen »mémoire négative de l’Europe« einerseits und »célébration téléologique de l’unité« andererseits. Abschließend resümiert Cadot, dass das Parlament innerhalb des Feldes multipler und konkurrierender Erinnerungspolitiken die Position einer »secondarité symbolique« einnehme.
Der Verdienst des Bandes besteht darin, die verschiedenen nationalstaatlichen Erinnerungspolitiken anhand der jeweiligen Erinnerungsgesetze sowie der um diese geführten Debatten herauszuarbeiten. Damit liefert er einen Überblick über Erinnerungspolitiken in Europa. Allerdings verbleiben die einzelnen Beiträge nicht nur thematisch, sondern auch methodologisch weitgehend auf der Ebene des Nationalstaats mit der thematischen Ausnahme des letzten Beitrages zur EU als transnationaler Institution der Erinnerungspolitik.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Marcus Otto, Rezension von/compte rendu de: Sébastien Ledoux (dir.), Les lois mémorielles en Europe, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2020, 264 p., 4 ill. (Parlement[s]. Revue d’histoire politique. Hors série, 15), ISBN 978-2-7535-8109-8, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2022/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87528