Geht die Ära des Neoliberalismus zu Ende? Zumindest lassen sich zahlreiche Indizien dafür finden, dass »die Selbstverständlichkeit einer als ›neoliberal‹ titulierten Weltsicht bröckelt« (S. 9), konstatieren die Herausgeberin und die Herausgeber in ihrer kurzen Einleitung. Für ein abschließendes Urteil ist es allerdings noch viel zu früh, denn: was genau unter »Neoliberalismus« zu verstehen sei, sei komplizierter geworden. Warum das nach Ansicht der Autorinnen und Autoren so ist, die überwiegend aus unterschiedlichen Sparten der Geschichtswissenschaft kommen, verdeutlicht schon der Titel des Buchs. Er verbindet zwei Begriffe und damit zwei Projekte, die im Kontext »Neoliberalismus« üblicherweise eher nicht zusammengedacht wurden. Während »Deregulation« – oder »Deregulierung« – gewissermaßen ein Kernbestandteil neoliberaler Strategien darstellt, galt das für »Restauration« bislang nämlich nicht. Darunter fassen die Autorinnen und Autoren Phänomene wie die »Tendenzwende« nach dem Aufbruch von »1968«, den Aufstieg einer »Neuen Rechten«, die »Naturalisierung« nicht nur ökonomischer Ungleichheit oder die »Konfluenz von neoliberalen und rechts-libertären Elementen« etwa in rechtspopulistischen Strömungen und Parteien. Ihr Ziel ist es zu zeigen, dass die »Wissensordnungen« von Deregulation und Restauration »vielfältiger und politisch widersprüchlicher« waren und sind, »als die Erzählung von der Überhandnahme des Marktfundamentalismus suggeriert« (S. 11).

Ebenso innovativ wie die Kombination der beiden Begriffe oder Entwicklungen mutet auch der methodische Zugriff an: im Fokus der fünfzehn Beiträge stehen »intellektuelle Projekte« bzw. Bücher – und deren Initiatoren und Autorinnen, welche »die unterschiedlichen Ausprägungen und Manifestationen von Deregulation und Restauration im 20. und 21. Jahrhundert beleuchten« (S. 12). Sie entstammen dem Zeitraum zwischen den späten 1920er und den 2000er Jahren, formal und inhaltlich handelt es sich vor allem um philosophische, politische, gesellschafts-, wirtschafts-, wissens- und medientheoretische Abhandlungen. Jedem Buch oder Aufsatz, jedem Autor und jeder Autorin wird ein bestimmter Leitbegriff bzw. ein bestimmtes Thema vorangestellt: »Krise der Wirklichkeit« (Karl Mannheim), »Ordnung« (Wilhelm Röpke), »Bürokratie« (Niklas Luhmann), »Postmoderne« (Jean-François Lyotard), »informelle Ökonomie« (Hernando de Soto).

Unter den porträtierten Buchautorinnen und -autoren finden sich einige der »üblichen Verdächtigen« aus dem »neoliberalen« Lager wie der Nationalökonom und »Denkaktivist« (so Jakob Tanner, S. 36) Wilhelm Röpke, Michael Polanyi, die im zaristischen Russland geborene, im einschlägigen Milieu höchst einflussreiche amerikanische Schriftstellerin Ayn Rand oder der langjährige Chef der amerikanischen Zentralbank, Alan Greenspan – selbst übrigens ein »glühender« Verehrer Rands (S. 265). Manche Namen überraschen zwar zunächst, so etwa Stuart Hall (Identitätspolitik) oder Clifford Geertz (lokales Wissen). Aber auch in diesen Fällen wird der Stellenwert eines Textes und seines Autors im Spannungsfeld von Deregulation und Restauration durchaus überzeugend vermittelt.

Die Analysen selbst sind überwiegend in einem sachlichen Ton gehalten, nur gelegentlich bricht sich die Lust an Schärfe und Polemik Bahn, etwa in Adrian Daubs Beitrag über Ayn Rand, der dem Thema »Eliten« gewidmet ist. »Atlas Shrugged«, eines ihrer Hauptwerke, nennt er »eine Kreuzung« aus Hermann Hesses »Steppenwolf« und der »›Dianetik‹ des Scientology-Gründers Hubbard« (S. 75). Auch Jakob Tanner spart in seinem Beitrag über Röpke zum Thema »Ordnung« nicht mit Kritik an seinem »Helden«: So erwähnt er Röpkes »notorische Demokratieskepsis« und dessen Ablehnung des Frauenwahlrechts ebenso wie dessen nach 1945 unverhohlen zu Tage tretenden »Rassismus« (S. 39). Mit der Propaganda für eine »sympathische ›Gartenzwerg‹-Ökonomie« in Gestalt der Schweiz habe Röpke den »realexistierenden Kapitalismus« eskamotiert (S. 54). Eine Beschäftigung mit Röpke sei heute »anachronistisch«, auch wenn dessen »Grundthese, dass Gesellschaftspolitik ›jenseits von Angebot und Nachfrage‹ ansetzen« müsse, »merkwürdig aktuell« bleibe (S. 55).

Die Beiträge ermöglichen immer wieder überraschende und erhellende Einblicke in das komplexe und dynamische Verhältnis von Deregulation und Restauration in verschiedenen historischen Zusammenhängen. Sie zielen auf eine »politische Wissensgeschichte«, die auch die »Wissensproduktion als integralen Bestandteil politischer Auseinandersetzung« (S. 16) in den Blick nimmt. Wer sich für die Entstehungsbedingungen heutiger Tendenzen des »Neoliberalismus« interessiert, wird diesen Band mit beträchtlichem Gewinn lesen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Monika Wulz, Nils Güttler, Max Stadler, Fabian Grütter (Hg.), Deregulation und Restauration. Eine politische Wissensgeschichte, Berlin (Matthes & Seitz Verlag) 2021, 331 S. (Batterien, 103), ISBN 978-3-75180-322-9, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2022/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.1.87533