Der vorliegende Sammelband vereint 19 französischsprachige Beiträge ausgewiesener Adelsforscherinnen und -forscher aus Frankreich, Ungarn, Polen, Tschechien, Belgien und Deutschland, die sich aus jeweils sehr unterschiedlichen Blickwinkeln dem Thema Adelsmigration annehmen. Der Band geht zurück auf eine u. a. von der Arenberg Stiftung geförderte Tagung von 2018.

Der Großteil der Studien geht dabei weit über den biografischen Zugriff hinaus. Der zeitliche Fokus liegt auf der Frühen Neuzeit, zwei seitenstärkere Studien zum polnischen Adel widmen sich dem 19. und 20. Jahrhundert. Auch die Arenberg, die Jonathan Spangler zu den von multiplen Loyalitäten geprägten »Middle Kingdom-Families« gezählt hat1, werden mit der bis heute bestehenden, herzoglichen Linie epochenübergreifend behandelt (Bertrand Goujon). Der geografische Fokus liegt auf Frankreich, das gleichermaßen Ausgangspunkt zentraler Fluchtbewegungen der Neuzeit sowie Aufnahmeland war, das über den Bruch der Revolution hinaus eine Fülle von Chancen auf Hof- und Militärkarrieren sowie politische Ämter bot. Ein eindrückliches Beispiel ist der von Michel Figeac behandelte »polnische Magnat« Xavier Branicki, ab 1860 Bürgermeister von Montrésor (heute Indre-et-Loire). Vereinzelt werden regionale Schwerpunkte gesetzt, etwa im Fall der von Laurent Bourquin behandelten Champagne, die als nächstgelegener Anziehungspunkt des lothringischen Adels wirkte. Auch die Bedeutung der Höfe von Brüssel, Wien und Prag als Foren hochadeliger Karriere- und Heiratsaspirationen, als Ausgangspunkt von Militäroperationen sowie als faktische Zufluchtsorte wird herausgestellt. Luc Duerloo stellt in diesem Kontext den zwei Beiträgen zum (nur zum Teil adelig geprägten) Grand Refuge das »katholische Exil« der habsburgischen Niederlande entgegen, muss dabei allerdings im Kontext der Jahre 1629/30 auf der Ebene der Hochrangigen wie Maria von Medici bleiben.

Die Autorinnen und Autoren nähern sich dem Thema aus adelshistorischer Perspektive, was dazu führt, dass vermeintlich reguläre Formen von Mobilität als Migrationen gelten und der Begriff des Exils breit ausgelegt wird. So zählen auch etwa die von Sébastien Schick behandelten »exils doux« (S. 86) von im Inneren des Heiligen Römischen Reichs rotierenden Ministern dazu, die wichtige diplomatische Brücken zwischen ihren ehemaligen und künftigen Höfen bauten. Das breite Verständnis von Exil zeichnet den Band durchaus aus, denn gerade die verschwimmenden Grenzen zwischen Exil, Reise, Mission und Auslandsetappe, etwa im Zusammenhang mit Militärexpeditionen (oder den gängigen Bildungsreisen, die der Band nicht behandelt) waren das, was der adeligen Lebensrealität häufig entsprach. Der europäische Adel war eine per se hochmobile Gruppe, die durch Herrschaftsausübung, Heiratsallianzen und Klientelpolitik sowie schlicht und ergreifend qua Amt an permanente Ortswechsel gewöhnt war, diese sogar zu einer standesspezifischen Lebenshaltung stilisierte (»liberté nobiliare«, S. 8). Auch unter Bedrängnis stattfindende Ortsveränderungen sind folglich im Zusammenhang mit den spezifischen Voraussetzungen einer Elite zu sehen, die sich auf weit gefasste Netzwerke, standesinterne Solidarität und z. T. erhebliche finanzielle Vorsprünge stützen konnte. Der zwar als erniedrigend empfundene, aber lebensrettende Aufenthalt des infolge eines Jagdunfalls erblindeten Herzogs von Arenberg bei den Schwarzenberg in Wien und Krumau (Bertrand Goujon, S. 181f.) sowie das Exil Maria Christinas von Österreich in Wien und bei den Clary in Teplitz unter dem Deckmantel einer Thermalkur (Mathieu Magne, S. 95f.) – beides infolge der Revolution – sind dafür anschauliche Beispiele. Insofern stellt Igor Kraszewksi zurecht die Frage: »(...) Un aristocrate pouvait-il vraiment être en exil? N’était-il pas partout chez lui?« (S. 239).

Der Band liefert eine Vielzahl von Argumenten dafür, dass es trotz oder gerade wegen des unterstellten Kosmopolitismus ergiebig ist, das Exil als Untersuchungskategorie einzuführen, insbesondere in Hinblick auf die Frage der identifikatorischen »Horizonte« des Adels, die auch das andernorts von Mitherausgeber Martin Wrede diskutierte Verhältnis zwischen Adel und Nation berühren2. Solche Verortungen werden im Band unter »identités« gefasst, welche nach »itinéraires« und »intégrations« den dritten Untergliederungspunkt bilden. Die lose Anordnung ist analytisch nachvollziehbar, wird aber nicht immer den Beiträgen gerecht, die oft sowohl Aspekte des einen als auch des anderen enthalten. Insofern ist das Spektrum erkennbarer Ursachen, Verläufe und Ausgänge des adeligen Exils ebenso vielfältig wie ambivalent: neben dem »exil doux« steht der radikale Bruch mit dem gewohnten Umfeld, welcher, wie der Fall der Charlotte Louise von Schwerin zeigt, z. T. vollkommen individuellen Entscheidungen unterlag. Bisweilen konnten Exilbiografien zur Namensänderung und damit zur Herausbildung eines »autre soi-même« führen, wie die von Margarete Longueval Buquoy und Olivier Chaline untersuchte Laufbahn des aus bretonischem Adel stammenden Freiherrn von Herzogenberg (eigentlich Picot de Peccaduc) (1767–1834) in Österreich belegt (S. 163–174).

So manches Exil war aber auch alternativlos. Der von Anne Motta untersuchte lothringische Adel bleibt dabei ein bemerkenswerter Sonderfall, welcher gleichwohl strukturelle Tendenzen, vor allem die besonderen Anpassungsleistungen und oft langfristig geplanten Erhaltungsstrategien des Adels zu unterstreichen vermag: in der Zeit der französischen Besatzung zwischen den 1630er und 1690er Jahren entwickelte sich das Exil zweifelsfrei zum Kristallisationspunkt einer außergewöhnlichen »loyauté collective« (S. 43) von 40 Getreuen, die den Herzögen in kaiserliche Regimenter folgten. Gleichzeitig platzierten Familien wie die Haraucourt männliche Familienmitglieder im Dienst des französischen Königs sowie im parlement von Metz, während die Gemahlinnen oft unter hoher Gefahr »im Land« blieben, Ludwig XIV. den Eid leisteten und versuchten, die Familiengüter vor dem völligen Ruin zu bewahren. Solche Mehrfachverortungen, garantiert durch eine systematische Aufgabenteilung unter Eheleuten und Kindern, aber auch zwischen unterschiedlichen Linien desselben Hauses, führten auch dazu, dass Familienmitglieder sich letztlich auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden.

An mehreren Stellen wird die Prekarität des Exils deutlich, etwa im Fall des vor dem Bürgerkrieg fliehenden englischen Hochadels in Paris, der, wie Aurélien Ruellet anhand bislang unbekannter Notariatsakten eindrücklich belegt, nicht immer auf die Großzügigkeit des französischen Königs zählen konnte und sich mit Pfandleihen und Schmuckverkauf über Wasser halten musste. Am Ende drängen sich dank anregender Lektüre weiterführende Fragen auf, etwa nach Itineraren, Reisebedingungen und dem lediglich peripher angeschnittenen Passwesen sowie zur Rolle von »Grenzen«, die an einigen Stellen als selbstverständliche Bestandteile der politischen Geografie der Vor- und Frühmoderne begriffen werden. Insofern wäre eine weitere Diskussion der Ergebnisse des Bands, aber auch der dort zur Geltung kommenden Frage nach den identifikatorischen Bezügen des Adels im Kontext der adelsbezogenen, transregionalen Studien, wie sie aktuell an der Universität Leuven verfolgt werden, sicherlich bereichernd.

1 Jonathan Spangler, Those in between: Princely families on the Margins of Great Powers – The Franco-German Frontier, 1477–1830, in: Christopher H. Johnson, David Warren Sabean, Simon Teuscher, Francesca Trivellato (Hg.), Transregional and transnational families in Europe and beyond. Experiences since the Middle Ages, New York 2011, S. 131–154.
2 Martin Wrede, Einleitung: Adel und Nation in der Neuzeit, in: Martin Wrede, Laurent Bourquin (Hg.), Adel und Nation in der Neuzeit. Hierarchie, Egalität und Loyalität, 16.–20. Jahrhundert, Ostfildern 2016, S. 11–28, hier S. 18–19.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Maike Schmidt, Rezension von/compte rendu de: Laurent Bourquin, Olivier Chaline, Michel Figeac, Martin Wrede (dir.), Noblesses en exil. Les migrations nobiliaires entre la France et l’Europe (XVe–XIXe siècle), Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2021, 289 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-80930, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89094