Karl X. von Frankreich (1757‒1836) ist unter den späten Bourbonen, deren notorisch negative Reputation erst die jüngere Geschichtsschreibung differenziert und aufgehellt hat, der nach wie vor am schlechtesten beleumundete. Als Ultraroyalist, politischer Reaktionär und strenger Katholik gilt er als einer der verfassungsfeindlich-klerikal motivierten Hauptverantwortlichen des Scheiterns der 1814 restaurierten »legitimen« Monarchie, an deren Spitze er ab 1824 für kaum sechs Jahre stand. In der Folge hat sich die republikanisch geprägte französische Geschichtsschreibung zur Revolution und den postrevolutionären Regimen nicht ausführlicher für ihn interessiert. Genauso wenig hat eine in den letzten beiden Jahrzehnten erneuerte Historiografie zu den reformerisch-dynamischen Impulsen der monarchies censitaires zwischen 1814 und 1848 zu einer grundsätzlich neuen Beurteilung seiner Regierungszeit geführt. Die verfügbaren Biografien Karls X. sind großenteils politisch gefärbt, erfüllen nur zum Teil wissenschaftliche Ansprüche bzw. bleiben in ihrer Strahlkraft marginal1.

Auch in Pierre Dauga hat Karl X. seinen Biografen nicht gefunden. Der Klappentext des vom Verlagshaus Onde nachlässig redigierten Bandes verheißt eine »der historischen Wahrheit verpflichtete Erzählung«. Diesem Anspruch wird Daugas Biografie insofern gerecht, als sie einen tendenziösen Anschein vermeidet, sich aber zugleich mit historischen Einschätzungen, Bewertungen und überhaupt Analysen jenseits von Allgemeinplätzen wie über die »nullité« einzelner Minister zurückhält. Dieses Problem ist indes weniger ein weltanschauliches als ein methodisches bzw. handwerkliches: Laut Klappentext angereichert mit »Beobachtungen, Anekdoten und zahlreichen Zeitzeugnissen« richtet sich die Biografie an eine breite Leserschaft »ungeachtet historischer Vorkenntnisse«. In der Einlösung dieser Ankündigung wartet Dauga weder mit neuen Quellen auf, noch nimmt er den aktuellen Forschungsstand zur Kenntnis. Wichtige Arbeiten zur politischen Kulturgeschichte der Krisen des späten Ancien Régime, die gesamte seit dem bicentenaire erschienene Literatur zur Emigration wie die erwähnte neuere Restaurationsgeschichte ignoriert er, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Emmanuel de Waresquiel oder Francis Démier. Konsequent ausgeblendet werden auch nichtfranzösische Quellen und Literatur. Angesichts dessen, dass Karl X. über dreißig Jahre seines Lebens im Exil verbrachte und die Restaurationsmonarchie unter besonderer Beobachtung auswärtiger Diplomaten stand, bedürfte es schon überzeugender Argumente, um diese Perspektiven völlig außer Acht zu lassen und stattdessen hinlänglich bekannte Versatzstücke und Stereotypen über die Notabelnversammlungen, die Emigranten in Koblenz oder die politische Geschichte der Restauration zu reproduzieren.

In exzessiver Weise schöpft Dauga aus der Memoirenliteratur des 19. Jahrhunderts und zitiert diese ohne weitere Quellenkritik oder Anbindung an die gut aufgestellte literatur- und geschichtswissenschaftliche Memoirenforschung in positivistischer Ausführlichkeit und ohne neue Einsichten. Stellenweise färbt der Memoirenton auf die Historikerstimme ab, etwa wenn sich der Biograf an Beschreibungen der – insbesondere unvorteilhaften – Körperlichkeit seines historischen Personals regelrecht delektiert, aber auch am Ende des Werks: Überliest man die Anführungszeichen, scheint das letzte der zahllosen Zitate aus Chateaubriands »Mémoires d’outre-tombe«, hinter denen sich die Biografie streckenweise regelrecht verbirgt und denen auch der Titel vom »Schiffbruch der Monarchie« entlehnt ist, sprachlich nahtlos in eine der wenigen Positionsnahmen Daugas überzugehen: »Faute d’avoir su épouser son siècle, la monarchie française s’est abîmée et a disparu dans les plis du drapeau blanc« (S. 438), lautet Daugas lyrische wie mit Blick auf die Julimonarchie und das Second Empire kurzsichtige Quintessenz. Weiterhin erschweren die zahllosen wie wenig aussagekräftigen Zwischenüberschriften die Lektüre, die den Band in Unterkapitel von ein bis zwei Seiten, teils aber auch nur sechs Zeilen Länge, zergliedern. Nach welcher Logik manche Zitate in den inkonsistent gesetzten und formatierten Fußnoten belegt werden, andere wiederum nicht, bleibt unklar.

Über manche gestalterische Eigentümlichkeit ließe sich hinwegsehen, wenn Dauga seiner Biografie eine klare Perspektive gegeben hätte: Geht es hier um den sechs Jahre regierenden König Karl X., um »Monsieur« als französischen Thronfolger, der er – je nach Betrachtung – zehn oder dreißig Jahre zuvor war, oder um den Comte d’Artois, der als viertgeborener Sohn mit großer dynastischer Wahrscheinlichkeit nie auf den Thron gelangen hätte sollen? Geht es um die französische Binnenschau auf einen in Versailles sozialisierten Prinzen oder um einen Getriebenen der Revolutionszeit mit 30 Jahren »Auslandserfahrung«? Oder steht das lange Leben Karls X. für eine Geschichte der Restaurationszeit, der Bourbonen oder der französischen Monarchie insgesamt? Für jede dieser Lesarten liefert Dauga Versatzstücke, ohne jedoch zu gewichten oder zu entscheiden. Somit wähnt man sich bei der Lektüre stellenweise in einer Geschichte des französischen Hofes, einer Überblicksdarstellung des Revolutionsbeginns bzw. der Kabinette der Restaurationszeit oder in einer stundengenauen Ereignisreportage der Julirevolution. Augenfällig ist, dass Dauga von 440 Seiten nur knapp 100 der Regierungszeit widmet – das 2015 erschienene Vorgängerwerk von Jean-Paul Clément und Daniel de Montplaisir setzte zu dieser Phase mit mehr als dem doppelten Umfang andere Schwerpunkte2. Dauga hingegen hangelt sich zwischen 1824 und 1830 ohne substanzielle Aufschlüsse an den bekannten Gesetzesprojekten entlang – mit augenfälligen Lücken, etwa in der Kolonialpolitik. Der Bildteil des Bandes wiederum bietet allein sattsam bekannte Darstellungen aus der Zeit vor dem Regierungsantritt.

Der königliche Protagonist selbst bleibt in dieser Biografie erstaunlich blass, nicht nur, weil er selbst aus den Quellen kaum spricht, sondern weil der Biograf ihn immer wieder aus dem Blick verliert. Wenige aufschlussreiche Passagen, etwa zur Rückkehr des Comte d’Artois aus dem Exil und zur praktischen Realisierung der Restauration 1814, die andernorts meist aus der Perspektive Ludwigs XVIII. geschildert werden, stehen letztlich in keinem Verhältnis zur unausgewogenen wie konventionellen Gesamtdarstellung. Insofern vergibt auch diese Biografie einmal mehr die Chance, gerade das politische Profil eines Monarchen zu beleuchten, der als früher Emigrant ein entschiedener Gegner der Revolution war, sich im Exil durchaus als pragmatisch erweisen konnte und über dessen Handlungsmacht gegenüber ultraroyalistischen Strömungen nach 1814 man endlich einmal gern Fundierteres wüsste. Aber Dauga reproduziert einmal mehr das pauschale Bild von »den« Emigranten, (Ultra-)Royalisten oder Liberalen im Kollektiv. Als Kernbotschaft bleibt nach über 400 Seiten die dürre Feststellung, dass Karl X. seit den 1780er Jahren seine politischen Überzeugungen nicht geändert habe, er dafür im persönlichen Leben im Laufe der Zeit »genauso keusch wie fromm« (S. 435) geworden sei, unbefriedigend. Selbst wenn sich diese These als tragfähig erweisen sollte, dann wäre eine solche politische Kontinuität angesichts der mindestens neun politischen Regime in Frankreich, die Karl X. zwischen 1789 und 1830 er- und überlebte, umso erklärungsbedürftiger.

Wer über die Grundspannungen von Monarchie und postrevolutionärer Gesellschaft auch jenseits von Spezialistenkreisen biografischen Aufschluss sucht, möge für Karl X. einstweilen weiter zu Jean-Paul Clément und Daniel de Montplaisir greifen. Lohnenswerte Biografien historischer Zeitgenossen liegen zu Ludwig XVIII. von Philip Mansel vor, zu Talleyrand von Emmanuel de Waresquiel oder zu Chateaubriand von Jean-Claude Berchet3. Alternativ laden die politisch pointierten wie stilistisch brillanten Memoiren der letztgenannten beiden Protagonisten der Revolution, Emigration und Restauration zur (Re-)Lektüre ein. Für Karl X. bleibt die Hoffnung, dass seine beiden 2024 und 2030 anstehenden Regierungs-»Jubiläen« neue Impulse zu seiner Biografik geben mögen.

1 Einen knappen Überblick über die Biografik zu Karl X. bietet Josef Johannes Schmid: Neue Biografien zu Charles X und François Nicolas Benoît Haxo (Rezension), in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 7/8 [15.07.2016], URL: http://www.sehepunkte.de/2016/07/28907.html
2 Jean-Paul Clément, Daniel de Montplaisir, Charles X. Le dernier Bourbon, Paris 2015.
3 Ibid.; Philip Mansel, Louis XVIII, London 2005; Emmanuel de Waresquiel, Talleyrand. Le prince immobile, Paris 2003; Jean-Claude Berchet, Chateaubriand, Paris 2012.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Friedemann Pestel, Rezension von/compte rendu de: Pierre Dauga, Charles X. Le naufrage de la monarchie, Paris (Éditions de l’Onde) 2020, 462 p., ISBN 978-2-37158-200-2, EUR 23,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89100