In ihrem Vorwort zu Claudio Ferlans »Sakraler Rausch, Profaner Rausch« kündigt Birgit Emich an, es sei ein Buch, bei dem »niemand auf die Idee kommen würde, Geschichte sei trocken«. Diese Prognose bewahrheitet sich vollumfänglich. Von Format und Gestaltung über Aufbau und Erzählweise bis hin zum Anhang ist dieses Buch alles andere als trocken, und das schon, ohne die inhaltliche Ausrichtung zu berücksichtigen: Trunkenheit. In fünf Kapiteln widmet sich Ferlan Kulturen, Praktiken und Räumen des Alkoholrauschs in Europa und in den Amerikas, hauptsächlich zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert. Er vollzieht die Kollision von Perspektiven auf die situative Akzeptabilität und Inakzeptabilität von Trunkenheit in der Europäischen Kolonisierung nach, die Wahrnehmung indigener Trunkenheit durch die Kolonisatoren, die Veränderung von Praktiken des Alkoholtrinkens und die daraus resultierenden sozialen Herausforderungen in der »neuen Welt«. Im Einklang mit Ferlans Expertise (und dem Buchtitel) liegt der Fokus vor allem auf dem Verhältnis von Trunkenheit und religiöser Praxis, ein Großteil der genutzten Quellen stammt von Missionaren und anderen religiös zu verortenden Kolonisatoren.

Das Spektrum der Räume, Situationen und Personen, die Ferlan seiner Leserschaft vorstellt, ist immens angesichts der Tatsache, dass der eigentliche Buchtext nur etwa 80 Seiten umfasst: Ferlan führt durch deutsche Biergelage und alkoholgebundene Gastfreundschaft in Istrien, durch Inka-Bankette und Begräbnisfeiern der Tarahumara, durch aztekische Menschenopfer-Zeremonien und widerständisch motivierte Abstinenzbewegungen in unterschiedlichen Native American Nations, bis hin zu Wirtshäusern aus der Zeit der Atlantischen Sklaverei und den Schlachtfeldern des Amerikanischen Bürgerkriegs. Es gibt sogar einige Überlegungen zur Bedeutung von Alkohol für Primaten. Untergebracht sind all diese – und noch unzählige weitere – Geschichten in fünf Kapiteln, die zunächst die Wege des Alkohols beleuchten (1), dann europäische Sichtweisen und einheimische Gepflogenheiten vorstellen (2), neue Trinksitten und veränderte Bräuche (3) sowie betrunkene Straftäter und betrunkene Sünder untersuchen (4), und sich schließlich Orten des Trinkens annehmen (5). Diese Struktur ist einleuchtend und oft auch stringent, doch überwiegt beim Lesen eher der Eindruck großer erzählerischer Spontanität – sicherlich eine Kunst in sich.

Laut Ferlan ist es »Sinn und Zweck dieser Arbeit […] über die Bedeutung des Trinkens beziehungsweise der Trinksitten in der Geschichte von Europa und Amerika nachzudenken« (S. 83). Diese Beschreibung trifft es gut, denn Ferlans Geschichte(n) von Trunkenheit wirken bisweilen in der Tat wie ein verschriftlichter Denkprozess. Mit einem Enthusiasmus, den die deutsche Übersetzung von Bettina Dürr gut einfängt, springt Ferlan über den Globus und durch die Epochen, überquert in wenigen Sätzen Kontinente und Jahrhunderte. Scheinbar assoziativ und mit viel Verve, Ironie und Witz verknüpft er historische Akteurinnen und Akteure, Situationen, Erzählungen und Texte, und diese ohnehin schon hoch unterhaltsame Mischung wird immer wieder zusätzlich belebt durch persönliche Anekdoten Ferlans, sowie bisweilen überraschende weitere Referenzen – etwa zur Fußballlegende Diego Maradona (S. 21). Das Resultat ist eine beeindruckende Verbindung von Expertise und Informalität, welche die Zugänglichkeit des Buches gerade auch außerhalb einer akademischen Leserschaft gewährleistet. Unterstützt wird dies durch Gestaltung und Format. Die deutsche Übersetzung des zuerst 2018 erschienenen »Sbornie sacre, sbornie profane. L’ubriachezza dal Vecchio al Nuovo Mondo« präsentiert sich in einem attraktiven, fast an ein schmales coffee table book erinnernden Einband, es gibt keine Fußnoten und nur wenige Anmerkungen im Text. Anstatt einer Literaturliste stellt Ferlan im Anhang ausführlich das von ihm genutzte Quellen- und Literaturkorpus vor, ein bemerkenswerter und überzeugender Schritt, in dem auch einige sorgsame Einordnungen hinsichtlich der Kolonialität des historischen Materials vorgenommen werden.

Dies ist wichtig, denn die informelle, springende, fast einem Gespräch nachempfundene Erzählweise begünstigt, dass diese Einordnungen im Buchtext manchmal ausbleiben. Dort, wo Ferlan sich explizit mit Kolonialität auseinandersetzt – und etwa Eurozentrismus oder die Herkunft und Perspektive der Quellen erläutert – erfolgt dies in nachdenklicher, gut verständlicher Weise, die sich auch einem nichtwissenschaftlichen Publikum erschließt. Dort, wo die diversen Geschichten und historischen Schilderungen »Fahrt aufnehmen«, kommt es jedoch zumindest in der deutschen Ausgabe dazu, dass hochsensible koloniale Begriffe an einigen Stellen nicht die Kontextualisierung oder wenigstens Markierung erfahren, die sie bräuchten. Hier ist durchaus möglich, dass im Rahmen von Übersetzung, Bearbeitung und Satz ursprüngliche Abgrenzungen verloren gegangen sind – es wäre sicherlich empfehlenswert für den Verlag, die Einbettung von im Deutschen eigentlich bewusst abgelehnten historischen Begriffen wie »Mestizen« oder »Mulatten« jenseits direkter Quellenzitate in Übersetzungen genauer zu überprüfen.

In »Sakraler Rausch, Profaner Rausch« erzählt Ferlan Kolonialgeschichten, hauptsächlich aber erzählt er Geschichten von Trunkenheit, von Gemeinsamkeit und Abgrenzung, von Glaubenserfahrung und -praxis in unterschiedlichsten Kontexten, und dies in bemerkenswert anschlussfähiger und einladender Weise. Claudio Ferlan betreibt hier Wissenschaftskommunikation, wie sie nicht vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gelingt, und Interviews, etwa mit der Deutschen Weinakademie, zeugen von der Resonanz, die das Buch in interessierten Kreisen hervorruft1. »Sakraler Rausch, Profaner Rausch« ist kurz, schnell und ungemein unterhaltsam erzählt, es eignet sich als Aufriss einer wissenschaftlichen Thematik (unter anderem als Einstieg in Ferlans weitere Forschungsarbeiten zur Trinkkultur jesuitischer Missionare) ebenso wie als attraktives Mitbringsel für die Wein, Gin- oder Whiskyliebhaberinnen und Whiskyliebhaber im Bekanntenkreis.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Annika Raapke, Rezension von/compte rendu de: Claudio Ferlan, Sakraler Rausch, profaner Rausch. Trunkenheit in der Alten und Neuen Welt, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2021, X–98 S. (Transfer), ISBN 978-3-11-067487-3, EUR 29,95., in: Francia-Recensio 2022/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89103