Nach ersten Versuchen im 14. Jahrhundert entstanden zwischen 1537 und 1589 mehr als ein halbes Dutzend Varianten anthropomorpher Kartierungen des europäischen Kontinents in Frauengestalt. Als Ergebnis eines neuen Umgangs mit Karten ließen diese Versionen, ähnlich wie auch Michael Aitzingers »Leo Belgicus« (1588), Grenz- und Raumvorstellungen mit Körper-, Geschlechter- und Machtkonstruktionen interagieren. Solchen bildlichen Geografien setzt K. Piechocki in ihrer ausgezeichneten Studie die Vorstellungen poetischer, linguistischer und kartografischer Texte an die Seite. Mit großer sprachlicher Überzeugungskraft begründet sie ihre Grundthese, dass die neuen Entwürfe von Europa als einem autonomen und souveränen Kontinent vom Aufstieg einer neuen übergreifenden humanistischen Disziplin angetrieben worden seien. Die Kartografie habe die verschiedenen Domänen des Lernens miteinander verbunden und geformt. So sei es den Humanisten wichtig gewesen, Europa genauer zu definieren und seinen speziellen Status zu bestimmen, während die kontinentalen Grenzen und die postkolonialen Strukturen (erstmals) geschaffen wurden. Ptolemäus’ Koordinatensystem habe als Antriebsfeder fungiert, um Karten zum epistemologischen Mittel der Selbstreflektion zu erheben und andere Gattungen zu beeinflussen.

Piechockis Untersuchung ist schon allein deshalb raffiniert, weil sie nicht die Karten weiterverfolgt, sondern das damalige Bild Europas über fünf literarisch-wissenschaftliche Texte konstituiert. Damit eröffnet sie von Anfang an eine räumliche Dimension des textuellen Diskurses. Sie beleuchtet das europäische Gefüge aus der Sicht verschiedener Sprachen und aus vier Himmelsrichtungen, nämlich aus Polen, Frankreich, Italien und Portugal, die sich um Deutschland gruppieren. So gelingt es ihr, fünf unterschiedliche inhaltliche, sprachliche und geografische Perspektiven zu inkludieren und Europa komparatistisch zu erfassen. Ausgewählt wurden Conrad Celtis’ »Quatuor Libri Amorum« von 1502 für das lateinisch-humanistische Zentrum Deutschland, Maciej Miechowitas »Tractatus de Duabus Sarmantiis« von 1517 für Polen im Osten, Geoffroy Torys französischsprachige »Champ fleury« von 1529 für den Norden, Girolamo Fracastoros »Syphilis sive Morbus Gallicus« von 1530 für den Süden sowie Luís de Camões’ »Os Lusíadas« von 1572 für den äußersten Westen. Piechockis Ziel ist es, dem von Tom Conley geprägten Begriff des »cartographic writing« nachzuspüren und die vielschichtigen Rezeptionsvorgänge im interdisziplinären Zugriff zu verstehen. Auf einen einleitenden Themenaufriss folgen fünf systematisch aufgebaute Kapitel, die eine fruchtbare Spannung zwischen Diskurs und Raum, Poesie und Wissenschaft, Konstruktion und Imagination entfalten.

In der Einleitung (S. 1–25) gelingt es Piechocki, die Fragestellung geschickt zu konturieren und die Kartografie als Mittel eines europäischen Selbstfindungsprozesses zu etablieren. Über die geografisch inspirierten Texte entwirft sie ein Konzept, dessen Wirkkraft höchstens vereinzelt durch Karten zu ergänzen ist. Sie geht davon aus, dass die Renaissancehumanisten neue geografische Einheiten etablierten und die offenen Räume in einem explorativen und zunehmend kolonialisierenden Prozess gattungsübergreifend eroberten. Die Transformation Europas von einem seit der Antike nur rudimentär definierten Erdteil zu einem scharf umgrenzten, hegemonial agierenden Kontinent sei dem Denken der Humanisten entsprungen und von den komplexen Kartenwerken der Zeit inspiriert worden. Die Kartografie als humanistische Disziplin habe den Menschen geholfen, die Welt und den eigenen Kontinent zu definieren sowie sich selbst und die anderen darin zu verorten. Der Buchdruck habe den Prozess, Europa als Kontinent zu begreifen und geografisch, ideologisch und poetisch zu formieren, beschleunigt, aber auch verkompliziert. Alle diese Annahmen werden anschließend anhand der fünf Texte weiter konkretisiert.

Im ersten Kapitel (S. 26–67) interpretiert Piechocki die lateinischen Elegien »Quatuor Libri Amorum«, in denen Conrad Celtis 1502 in neulateinischen Hexametern die Umrisse eines neuen Europas in einer sich dramatisch wandelnden Welt zu erfassen und die Position des Deutschen Reichs als dessen Nabel zu stärken suchte. Protagonist des Werks ist ein weltlicher Pilger, der sich an seine erotischen Begegnungen erinnert, die er im Laufe seines Lebens an den deutschen Grenzen in Krakau, Regensburg, Mainz und Lübeck erlebt haben will, während er Nürnberg mit seinen kaiserlichen Kleinodien als Nabel der Welt betrachtet. Die mit Holzschnitten von Albrecht Dürer und Medaillons zu Platon, Ptolemäus und Albertus Magnus illustrierte Liebespoesie war damit in einen geografischen Rahmen gestellt, der es erlaubte, die Tabulae als fundamentales generatives Prinzip einzuführen sowie die führende Rolle der Deutschen in Europa mit der Translatio des antiken kartografischen Wissens bis hin zu Schedels Chronik zu begründen. Mit dem Dreigestirn von Chorografie, Kosmografie und Kartografie richtete Celtis den Blick auf die Überführung umgrenzter Körper in bedeutungsvoll geordnete Muster. Er manipulierte Deutschlands Grenzen in Wort und Bild, indem er eine Grenzlosigkeit im Norden imaginierte und die Füße, Arme und Finger über die geschlossenen Seiten der rechteckigen Tabula hinausragen ließ. Durch das Ausloten der vier Ränder über die erinnerten Liebesgeschichten kreierte er also eine Offenheit der Konturen im Zentrum Europas.

Das zweite Kapitel (S. 68–106) seziert Maciej Miechowitas »Tractatus de Duabus Sarmantiis« von 1517, die erste frühneuzeitliche Studie, die die ptolemäischen Grundlagen im Osten kritisch herausforderte. Miechowita (1457–1523), Rektor der Universität Krakau, behandelte über die Beschreibung der Territorien und Ethnografie Polens hinaus die Mechanismen, Praktiken und Theorien des Übergangs von Europa nach Asien. Dabei nutzte er das kartografische Denken als mächtigen Katalysator seiner Wahrnehmung, um die damals etablierte, als unbeweglich geltende, aber fiktive Grenzziehung entlang des Don und der Rhipäischen Berge grundsätzlich infrage zu stellen. Indem er auf die Vorstellung von Inseln als Grenzsteine des Kontinents rekurrierte, konzipierte er – gleichsam in symmetrischer Analogie zu den vorgelagerten Inseln im Westen – die Krim als Marker im Osten. Dabei kann Piechocki Miechowitas Definitionen von Grenze, Grenzüberschreitung und Kolonisation analysieren und damit verbundene Aushandlungsprozesse aufzeigen.

Drittens (S. 107–147) analysiert Piechocki Geoffroy Torys französischsprachigen Traktat »Champ fleury« von 1529, ein Handbuch zur Standardisierung des französischen Alphabets. Der Bezug zum Europadiskurs erscheint hier gewagter, denn analysiert werden nicht die geografischen Werke des königlichen Druckers und Gelehrten, sondern vor allem seine philologischen Kommentare zu Form und Funktion einzelner Buchstaben als essentielle Teile des Alphabets und eines neuen linguistisch, somatisch, grafisch und numerisch geprägten Zeichensystems. Damit verbindet Tory die theoretische Frage, was ein Kontinent ist und welche Rolle die Sprache bei dessen Definition spielt. Der Konnex zum Europadiskurs findet sich einerseits in der Analogie zwischen Buchstaben und kartografischen Signaturen, den kleinsten grafischen Einheiten einer Karte, die in der Zusammenschau wiederum Europa als Ganzes ergeben. Andererseits identifizierte Tory die hebräische, griechische und sogar arabische Schrift, die er zur Grundlage des französischen Alphabets stilisiert, als Ausgangspunkt für den kulturellen Prozess der Europäisierung.

Das vierte Kapitel (S. 148–184) konzentriert sich auf Girolamo Fracastoros »Syphilis sive Morbus Gallicus« von 1530, das erste Weltgedicht in neulateinischer Sprache, das Piechocki den Werken von Martin Waldseemüller und dessen Zeitgenossen zur Seite stellt. In einer Mischung aus Kartografie, Philologie und Poesie thematisierte der Veroneser Arzt und Gelehrte die Frage, wie man sich angesichts der epidemischen Bedrohung durch die Syphilis die Kontinentalgrenze zwischen Europa und dem aufkommenden Amerika, zwischen der alten und der neuen Welt, überhaupt vorzustellen habe, wenn – wie er annahm – die Landmassen unter dem Meer ineinander übergingen und die Küstenlinien sich kontinuierlich verformten. Im ständigen Wechsel zwischen Europäisierung und Globalisierung schuf er damit eine medizinisch-geografische Grundstruktur, die er in eine wirkungsmächtige Kartografie der Krankheit überführte.

Das fünfte Kapitel (S. 185–229) ist dem epischen Gedicht »Os Lusíadas« gewidmet, das Luís de Camões 1572 in portugiesischer Sprache verfasste. Geschrieben in einem liminalen Moment portugiesischer Geschichte, als sich der Verfall kolonialer Macht und herrschaftlicher Dominanz andeutete, zeigt das Nationalepos, wie die Kartografie zum Instrument europäischer Kolonialisierung avancierte. Mit kritischem Blick verdeutlicht Piechocki, wie Camões und seine Zeitgenossen die europäische Identität auf die südliche Hemisphäre und die eroberten Völker übertrugen, Globalisierung und Europäisierung gleichsetzten und dadurch ihre kolonialen Bestrebungen rechtfertigten.

Die Zusammenfassung (S. 230–234) arbeitet nochmals heraus, wie sich die Texte und ihre Erzählungen, die Erzähler und ihre Kontexte, die Inhalte und die Komponenten der Europawerdung in den textuellen Transformationen widerspiegeln. Piechocki hat ein mutiges Buch von großer Komplexität geschrieben, das über das Europaverständnis der Renaissance hinaus auch eine literarische Kartografie etabliert. Ein Anmerkungsapparat (S. 241–296) und ein Register (S. 297–311) beschließen, leider ohne ein Literaturverzeichnis, die kreative Studie, die uns in der Veranschaulichung unterschiedlicher Texttraditionen einen überaus wertvollen Zugang zu den Europadiskursen der Renaissance eröffnet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Ingrid Baumgärtner, Rezension von/compte rendu de: Katharina N. Piechocki, Cartographic Humanism. The Making of Early Modern Europe, Chicago (The University of Chicago Press) 2019, XII–311 p., 23 b/w fig., ISBN 978-0-226-64118-8, USD 45,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89113