Epochengeschichtliche Großdeutungen gehören zu den Raritäten einer postmodernen Geschichtswissenschaft. Das hat viele Gründe, darunter die berechtigte Skepsis gegenüber historiografischen »Meistererzählungen«. Und dennoch, das Bedürfnis nach Orientierung und übergreifenden Epochendeutungen bleibt bestehen bzw. scheint jüngst sogar wieder zuzunehmen. Schon deshalb dürfte das Buch »Das Zeitalter der Ambiguität« von Hillard v. Thiessen auf großes Interesse stoßen. Seine Synthese formuliert der in Rostock lehrende Frühneuzeithistoriker aus einer dezidiert kulturgeschichtlichen Perspektive. Das mag überraschen, denn es war bekanntlich die Neue Kulturgeschichte, die seit den 1990er Jahren die großen Paradigmen zur Genese der Moderne und des modernen Staates differenziert, aber auch dekonstruiert hat. Ihr Potenzial indes, vergleichbare Deutungen von epochengeschichtlichem Rang hervorzubringen, ist vielfach bestritten worden. Mit seinem Buch legt Hillard v. Thiessen einen fulminanten Gegenbeweis vor.
Das dargebotene Epochenbild kann man in seinem formalstrukturellen Aufbau als »nachmodernisierungstheoretisch« bezeichnen. Damit gilt in übertragbarer Weise, was Andreas Reckwitz über postmoderne Gesellschaftstheorie schreibt: Um die Charakteristika einer Epoche zu benennen, wird »kein einfaches Strukturprinzip« mehr ermittelt, sondern ein gesellschaftliches »Spannungsfeld«, das mehrere Strukturprobleme zueinander in Beziehung setzt1. Dieses unten noch genauer zu umreißende Spannungsfeld übergreift einzelne Handlungssphären und bedingt sowohl Dynamik als auch Statik, Koexistenz und Konflikt (etwa S. 11–14, 20, 118 f.). Analog zur Reckwitz’schen Spätmoderne wird auch bei v. Thiessen die Frühe Neuzeit also nicht länger »als ein linearer Prozess der Entfaltung und Steigerung« einzelner Strukturmerkmale begriffen2. Die Liste solcher Merkmale ist bekanntlich lang (Rationalisierung, Säkularisierung, Individualisierung etc.), und nur auf den ersten Blick erhebt v. Thiessen seinerseits ein Schlagwort zum exklusiven Epochensignum – eben das der »Ambiguität«. In der Kulturgeschichte, insbesondere der frühneuzeitlichen, ist dieser Begriff seit gut zehn Jahren zur Projektionsfläche für all jene Phänomene geworden, die nicht mit den gängigen Prozesskategorien zu erfassen sind. Wenn die Welt, wie Thomas Bauer schreibt, »voll von Ambiguität« im Sinne von »Vagheit, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit« ist3, erscheint es fragwürdig, gegenwärtige oder vergangene Welten heuristisch zu vereindeutigen. Dieser Ansatz hat zu einer ganzen Reihe von Bestimmungen geführt, was die Frühe Neuzeit nicht oder doch nicht ausschließlich war, er hat aber keinen systematischen Gegenentwurf hervorgebracht. Hillard v. Thiessen integriert den Ambiguitätsbegriff daher in ein komplexeres Analysemodell, das er über mehrere Jahre unter dem Stichwort der frühneuzeitlichen »Normenkonkurrenz« entwickelt hat4.
Nach einleitenden Bemerkungen und Begriffsklärungen wird dieser Ansatz ausführlich in Kapitel 2 des Buches präsentiert. Seit dem Spätmittelalter kam es demnach zum spannungsreichen Aufstieg dreier Normensysteme. Jedes Normensystem richtete sich auf einen in der Vormoderne bedeutsamen Wertehorizont aus – »Ehre«, »Gemeinwohl« und »Glaube« lauten hier die pragmatisch gewählten Oberbegriffe. In der neuen Fülle sozialer, gemeinwohlorientierter und religiöser Verhaltensgebote, die mit diesen Grundwerten korrespondierten, sieht der Verfasser einen Ausdruck für Prozesse der »normativen Zentrierung« (Berndt Hamm). Die einzelnen Zentrierungen bedingten sich dabei vielfach wechselseitig, waren aber nicht aufeinander abgestimmt, sodass sie auch nicht in eine mustergültige Aufstiegs- und Differenzierungsgeschichte mündeten. Das heißt zum einen, es ordneten sich den einzelnen Normensystemen keine exklusiven Handlungsfelder zu; letztere waren zwar »diskursiv konstruiert«, blieben in der Praxis jedoch »lückenhaft« (S. 271, 35). Zum anderen bildeten sich keine operativ geschlossenen »Funktionssysteme« aus (S. 319). So wurden bestimmte Normen zwar immer »konkreter formuliert und energischer eingefordert« (S. 14) – in diesem Punkt pflichtet der Verfasser der viel beachteten These Peter Burschels zur frühneuzeitlichen Reinheitsobsession bei (S. 47 f.). De facto aber wurden Menschen dadurch vermehrt gezwungen, »sich zwischen widerstreitenden, gleichermaßen gültigen Handlungserwartungen zu entscheiden« (S. 18). Dass dies nur selten im Sinne einseitiger Reinheitsforderungen erfolgte, liegt für den Einzelfall auf der Hand. In der Summe jedoch veränderten und prägten diese Ambiguitäten das Gesicht der Epoche: Kulturelle Muster im Umgang mit konkurrierenden Verhaltenserwartungen, etwa in Form von »Strategien des Verschleierns, Arrangierens, Ausweichens, Verbergens, Heuchelns und Verstellens« (S. 294), verdichten sich zum Bild von einem »Zeitalter der Ambiguität«. Dies veranschaulicht der Verfasser in drei thematisch breitgefächerten Beispielkapiteln (»Normensysteme in Interaktion«, Kap. 3–5) und fasst darauf aufbauend seine Erkenntnisse in einem Überblickskapitel systematisch zusammen (»Umgehen mit normativer Uneindeutigkeit«, Kap. 6). Gerade der Umstand also, dass den frühneuzeitlichen Akteuren immer auch »gegenläufige, an Eindeutigkeit orientierte Verhaltensmodelle zur Verfügung« standen (S. 271), machte sie nach v. Thiessen im Ergebnis zu »multiple[n] Rollenträger[n]« (S. 161). In vielen Gesellschaftsbereichen konstatiert er ein habituelles Lavieren durch das Dickicht normativer Anforderungen, wobei die Menschen offenbar »weniger von dem Ideal belastet [waren], einem stimmigen, ihre authentische Identität vermittelnden und bekräftigenden Lebensstil zu folgen« (S. 272 f.; vgl. auch S. 33 f., 349). Vielmehr untermauerte die beharrliche Normenkonkurrenz, so die überzeugende Schlussthese (S. 358–364), zum einen die Grunderfahrung, dass das gesellschaftliche Fundament nicht beliebig zu überkommen war, zum anderen die christliche Anthropologie, dass auch der sündhafte Mensch selbst nicht wunschgemäß zu perfektionieren war. Das förderte sowohl eine generelle Akzeptanz für den Status quo als auch eine »ambiguitätstolerante« Haltung, wenn es darum ging, sich in einer zunehmend regulierten und doch in zentralen Wertfragen inkonsistenten Sozialwelt zurechtzufinden. »Diese kasuistische Mentalität ist ein zentrales Merkmal der Frühen Neuzeit« (S. 361).
Wo gesellschaftliche Differenzierung nicht planvoll orchestriert war oder zum systemischen Selbstläufer wurde, da waren Normenkonflikte notorisch. Zugleich aber waren sie prinzipiell unauflösbar, da die involvierten Werte je für sich genommen als hochgradig legitim galten. Dieser Ansatz bringt es mit sich, dass der Frühen Neuzeit nicht retrospektiv allerhand Widersprüchlichkeiten vorgehalten werden. Stattdessen geht es in akteurszentrierter Perspektive (S. 13, 119) um Normenkonkurrenzen, an denen das Ancien Régime selbst aktiv laborierte, ohne dass das Gesellschaftssystem kurzerhand in einer bestimmten Richtung hätte »aufgesprengt« werden können (S. 21). So drängten die Apologeten einzelner Reinheitsregime zwar immer wieder auf eine bedingungslose »Durchsetzung« ihrer jeweiligen Normen – die Folge waren »Sequenzen normativer Eindeutigkeit«5 (S. 275) oder »zeitbegrenzte Eindeutigkeit« (S. 161). Solche Purifizierungsoffensiven konnten mitunter erhebliche Dynamiken auslösen, begründeten aber doch keinen linearen Prozess der »Vereindeutigung«. Geht es um historischen Wandel, verzichtet v. Thiessen also nicht auf bewährte Interpretamente, darunter insbesondere diejenigen der Konfessionalisierung oder der Staatsbildung. Sie bleiben als Referenzpunkte für ein spezifisch frühneuzeitliches »Zeitalter der Ambiguität« sogar unabdingbar. Der Verfasser nimmt ihnen aber ihren latenten Determinismus, indem einzelne Prozesskategorien in einen umfassenderen Denkrahmen integriert werden. Als »heuristische Hilfsbegriffe«6 lassen sie sich hier kontrolliert verwenden, während das eigentliche »Entwicklungspotenzial« (S. 20) der frühneuzeitlichen Gesellschaftsform stets in einem mehrpoligen Spannungsfeld verortet wird (bes. anschaulich etwa auf S. 260–270). Auch die weiterführende Frage, inwiefern es in der Sattelzeit zu einer beschleunigten »Disambiguierung von Amt, Politik und Staat« sowie im Verhältnis von Religion und Privatheit kam (S. 326), wird in einem abschließenden Kapitel entsprechend differenziert erörtert (»Die Moderne: Ein Zeitalter der Eindeutigkeit?«, Kap. 7). Dabei verfestigt sich der Eindruck, gesellschaftlicher Wandel erfolgte in der Frühen Neuzeit eher akzidentiell und gebrochen-kumulativ statt uniform und quasi-planvoll.
Systemstabilisierend wirkten demgegenüber »Normenkonvergenzen«, die das Modell um einen wichtigen Aspekt erweitern (S. 48, 118 f., 141, 214 u. öfter). Die »Verzahnung« von Konfession und Herrschaft, von Gehorsam und Gewissen ist ein besonders wirkmächtiges Beispielfeld solcher Konvergenzen (S. 143–148, Zitat S. 145); die Einheit von sozialem Status und politischer Souveränität innerhalb der »soziopolitischen« Ordnung der Fürstengesellschaft ein anderes (Kap. 4). Diese langlebigen Wertesymbiosen ermöglichten Kontinuität, hatten allerdings auch ihre entwicklungsgeschichtlichen Nebenwirkungen, die im Buch weniger zur Sprache kommen. Zu denken ist etwa an die »Erschöpfung des konfessionellen Prinzips«7 im Übergang zum 18. Jahrhundert, die nicht allein aus einer Konkurrenz des religiösen mit anderen Normensystemen resultierte. Daneben dürfte der Konfessionsstaat selbst, indem er Konfessionalität als Herrschafts- und Distinktionsmedium überstrapazierte, zur Entwertung bzw. Kontingentwerdung des religiösen Normensystems beigetragen haben. Ein anderes Beispiel ist das diplomatische Zeremoniell auf Reichsebene. Auch hier kam es, wie Barbara Stollberg-Rilinger gezeigt hat, zu normativen Überregulierungen, zu einer kritischen Verfeinerung und »Verästelung der immer gleichen Verhaltensmuster«, wodurch sich die Akteure spätestens im 18. Jahrhundert in eine »kommunikative Sackgasse« manövrierten8. Symptomatisch waren fortwährende Rangkonflikte, die wohl ebenfalls »Normenkontingenz« sichtbar machten, aber doch kaum zu einer Ausdifferenzierung von sozialer und völkerrechtlicher Logik führten9. Erst in einem sich verändernden gesellschaftlichen Umfeld prägten solche hartnäckigen Verklammerungen gewisse Implosionsrisiken aus. Gegenüber den vielfältigen Szenarien latenter und offener Normenkonkurrenz ist damit möglicherweise ein Sonderfall im Modell benannt, der hinsichtlich der Frage nach epochengeschichtlichen Umwälzungen relevant sein könnte.
Hillard v. Thiessen möchte sein Buch als »eine Geschichte« der Frühen Neuzeit verstanden wissen (S. 12, Kursivierung im Original). Auch präsentiert er ausdrücklich kein hermetisches Theoriegebäude, sondern ein heuristisches Instrumentarium, das Forschungen anleiten soll – und ganz sicher wird. Denn das Werk dürfte in seiner beeindruckenden Systematisierungsleistung und thematischen Spannweite die Fachwelt mit außergewöhnlichem Diskussionsstoff versorgen. Nicht nur in dieser Hinsicht ist die Bezeichnung des Buches als »überlange[r] Essay« (ibid.) ein Understatement. So führt der Verfasser ansprechend und verständlich auch in komplexe Zusammenhänge ein. Elegante Zusammenfassungen breitester Forschungsstände machen sein Buch zu einer veritablen Fundgrube sowohl für Forschende als auch Studierende, die auf der Suche nach Inspiration in Form von Leitbegriffen, Konzepten und Anwendungsbeispielen der frühneuzeitlichen Kulturgeschichte – und darüber hinaus – sind. Dass all diese Forschungen konsequent in eine übergreifende Perspektive eingebunden werden, macht sowohl das Lesevergnügen als auch die Bedeutung dieses faszinierenden Epochenentwurfs aus.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Paul-Simon Ruhmann, Rezension von/compte rendu de: Hillard von Thiessen, Das Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2021, 447 S., ISBN 978-3-412-52120-2, EUR 49,99., in: Francia-Recensio 2022/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89116