Zu ihrem 200. Jubiläum hat die École des chartes, vertreten durch das vom Herausgeber geleitete Centre Jean Mabillion als ihr Labor, der Öffentlichkeit eine Enzyklopädie der historischen Quellenkunde geschenkt. Die meisten Verfasserinnen und Verfasser sind als archivistes paléographes selbst Alumni der École und an verschiedenen Kulturerbeeinrichtungen Frankreichs tätig. Es verwundert nicht, dass diese Festschrift die Binnenperspektive einer Institution auf ihre geistigen Grundlagen wiedergibt, verstanden allerdings als ein Angebot zum Dialog zwischen Quellenexpertise und dem Auswertungsinteresse der historisch arbeitenden Disziplinen. Neben dem Jubiläumsdatum gibt es dafür in der Sache begründete Anlässe, wie das Auftauchen elektronischer Quellengattungen und die Differenzierung der Lehre an der École, die heute auch Transnationale Geschichte und Digitale Geisteswissenschaften umfasst.

Das Werk steht in der Tradition des 1961 in der »Encyclopédie de la Pléiade« auf 1700 Dünndruckseiten erschienenen Sammelbandes »L’Histoire et ses méthodes«. Der anzuzeigende Nachfolger ist 60 Jahre später schlanker, enthält mehr (134), knappere und flexiblere Lemmata und, von den Herausgebern ausdrücklich beabsichtigt: Humor. Der Bogen wird von »généalogie« bis »genre« (im Sinne von gender) geschlagen, von »manuscrit« über »base de données« bis »jeu vidéo« und von »archives« über »heuristique« bis »vérité«. Als roter Faden dient das Konzept der Quelle in der physischen Manifestation des Dokumentenerbes in Archiven, Bibliotheken und Museen, zu dessen Bewahrung die École 1821 gegründet wurde. Dabei sucht man ein Lemma source oder document vergeblich. Dessen Rolle nimmt die ausführliche Einleitung des Herausgebers ein, allerdings ohne eine konzise Definition des Gegenstandes zu geben. Auch viele Einträge sind eher Essais statt gebrauchsfertiges Lexikonwissen, denn es geht um den intellektuellen Anschluss an die Geistes- und Sozialwissenschaften, denen »archivistique« und »diplomatique« als hilfswissenschaftliche Leitdisziplinen den »acte écrit« als Quelle aufschließen sollen. Dieser wird klassisch vorgestellt als authentisches Original, vorzugsweise von rechtlicher Bedeutung, das als »témoin« nach der Feststellung seiner quellenmäßigen »légitimité« als historische »preuve« dienen und als »pièce justificative« veröffentlicht werden mag. Die juristische Prägung vieler Wortfelder ist ebenso wenig zu übersehen wie die Anlehnung an den Positivismus, die in der fortlaufenden Bezugnahme auf Langlois’ und Seignobos’ »Introduction aux études historiques« von 1898 sichtbar ist. Am Anfang dieser Denkschule stand eben die Urkunde, das rechtsverbindliche Einzelstück, während die deutsche Archivwissenschaft ihren Bezugspunkt in Akten, also Zusammenstellungen aus vielen Schriftstücken eines gemeinsamen Betreffs, gefunden hat. Stichwörter, die dem entsprechen würden, etwa dossier, enthält dieses Wörterbuch nicht, wie sich überhaupt eine Lücke zwischen der (identitätsstiftenden) »charte« und den in vielen Artikeln angemessen breit thematisierten elektronischen »données« auftut, in der die vielfältigen Erscheinungsformen neuzeitlicher Papierdokumente fast verschwinden – wenn es sich nicht um die Erzeugnisse der »notaires« oder um »actes de la pratique« handelt. Letzteres Lemma ist signifikant, weil nur hier (S. 328), in Feststellung eines Bedeutungswandels von pratique, auf das Konzept »pragmatischer Schriftlichkeit« (im Original deutsch) und die Masse der »papiers administratifs« eingegangen wird, die den Hauptbestand der Archive ausmachen. Wenn es heißt: »au commencement est la diplomatique«, womit eine »diplomatique méthodique, philosophique« gemeint ist, deren Aufgabe es sei, »réhabiliter [le vrai] face au négationnisme du pyrrhonisme historique« (alle Zitate S. 147), dann ist klar, dass die historisch gewachsene Doppelnatur der École als Stätte der Archivausbildung und der Urkundenforschung die präsentierte Methodenlehre auf eine bestimmte Richtung festlegt.

Gruppiert um die »diplomatique« wird der Kernbestand der Historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften in höchster Konsistenz und Prägnanz präsentiert. Die École hat damit ein Standardwerk vorgelegt, das natürlich in der nationalen Forschungstradition wurzelt und diese häufig herausstreicht, aber die internationale Forschung umfassend berücksichtigt. In auffallendem Gegensatz sind die Lemmata zum elektronischen Zeitalter weniger konturiert und enthalten vor allem technologische Phänomenologie. Die Zeit für eine Kanonisierung dieses Wissens ist vielleicht noch nicht reif. Die im engeren Sinne archivwissenschaftlichen Artikel sind an der institutionellen Realität Frankreichs orientiert, zwischen »boîtes«, elektronischen »archives essentielles« und »archives ouvertes« aber international gültig. Wer aber den zentralen Artikel »archives« aufschlägt und dort eine grundsätzliche Diskussion des Archivbegriffs und möglicherweise eine Auseinandersetzung mit dessen Aneignung durch die Kulturwissenschaft erwartet, wird überrascht sein, nur die Entwicklung des Lehrplans der École des chartes vorzufinden. Der Band ist durchzogen von einer Verteidigung der als »érudition« bezeichneten quellenkundlichen Kompetenz gegenüber einer szientistischen Geschichtsforschung. Die Wende der annales zur problemorientierten Forschung wird noch mitvollzogen, neuere kulturwissenschaftliche Ansätze zur Archivtheorie unter "structuralisme" aber nur gestreift. Die Ablehnung eines relativistischen Geschichtsverständnisses ist immer wieder spürbar, wird aber eher stillschweigend und durch Auslassung formuliert. Der Artikel »auteur« bleibt buchstäblich im 19. Jahrhundert stehen. Foucault ist eine Randnotiz, Derrida eine bibliografische Angabe, Farges »Le goût de l’archive« (1989) nicht einmal das, und der Artikel »fiction« kommt ohne Zemon Davis’ aus französischen Quellen geschöpftes Grundlagenwerk »Fiction in the archives« (1989) aus. Dabei hätte die hier vorgestellte »philosophische« Diplomatik, die Lemmata wie »destruction« und »lacune«, »couleur« und selbst »odeur« zu integrieren weiß, den Rang, den kulturwissenschaftlichen Diskurs aufzugreifen und auch in einigen Punkten zurechtzurücken.

Die leicht verschrobene Methodengewissheit der Historischen Hilfswissenschaften spiegelt sich im gelungenen humoristischen Teil des Werkes. Das sind kleine Aperçus zu den Kapitel-Initialen des alphabetisch angeordneten Werkes. Wenn Flauberts hochfahrende Verzweiflung am Verstehen der »épactes« lakonisch mit »chiffre qui indique l’âge de la lune« quittiert wird (S. 159), drückt sich darin auch ein Habitus aus. Man lese auch V wie »vidimus« und S wie »stemma«. Den Rezensenten hat es erleichtert, dass der Fehlschluss von der École des chartes auf Chartres nicht nur ihm im paläografischen Proseminar unterlaufen ist (S. 91). Als Universitätsarchivar, der heute Studierenden selbst ein konzeptionelles Verständnis archivalischer Dokumente vermitteln muss, hat er das Werk seinem Handapparat hinzugefügt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Holger Berwinkel, Rezension von/compte rendu de: Frédéric Duval (dir.), En quête de sources. Dictionnaire critique, Paris (École nationale des chartes) 2021, 448 p., ISBN 978-2-35723-158-0, EUR 38,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89142