Claude Gauvard, eine führende französische Mediävistin, legt hier einen nahezu 200 Seiten starken Essay zu Jeanne d’Arc vor. Darauf konnte man gespannt sein, denn die Verfasserin ist besonders auf die Geschichte des mittelalterlichen Rechts und seiner Institutionen spezialisiert – was für die meisten Jeanne-Historiografen sonst nicht zutrifft. Das Resultat ihrer Überlegungen ist äußerst beachtlich.
Das Buch ist nicht chronologisch gegliedert. Gauvard beginnt mit einer Schilderung der Hinrichtung der Jungfrau, geht dann auf den Inquisitionsprozess und die Verurteilung über, gelangt anschließend zu den politischen Verhältnissen jener Zeit, um endlich die Frage nach Jeannes Charakter als Prophetin oder Hexe zu stellen. Es folgt dann noch ein Kapitel über die zeitgenössische Sicht von Freunden und Feinden, und den Schluss bilden knappe Überlegungen zum Revisionsprozess und dem Nachleben der Jungfrau.
Das Ganze ist also kunterbunt gemischt, der Leser wird oft hin- und hergerissen, wohl auch vielfach überfordert, sich aus diesen Facetten und Impressionen ein Gesamtbild von Jeanne und ihrer Zeit zu erschließen. Und da die Chronologie immer wieder durchbrochen wird, kann man aus diesem Buch auch den Verlauf der Erfolge und Niederlagen von Jeanne d’Arc nicht nachvollziehen. Allein die Belagerung und Entsetzung von Orléans wird ausführlich und zutreffend dargestellt, ansonsten hat sich die Verfasserin für Krieg und Diplomatie jener so bewegten Jahre kaum interessiert.
Gleichwohl ist dieser zur Monografie ausgewachsene Essay in vieler Hinsicht interessant, authentisch und oft zutiefst originell. Der Rezensent beschäftigt sich seit 40 Jahren mit Jeanne und hat in diesem Buch noch viel Neues gelernt, beispielsweise die Darstellung über die Variationen der Todesstrafe zu jener Zeit (S. 17f.). Die ganze Besonderheit der öffentlichen Verbrennung tritt hier zutage. Ob die dramatische Inszenierung des Todes der Jungfrau auf dem Scheiterhaufen allerdings eine Kompensation für die fehlende Legitimität des englischen Königs auf dem französischen Thron sein sollte (S. 21f), kann füglich bezweifelt werden. Hier, wie auch oft sonst, flüchtet sich die Verfasserin ins Vage. Bei der Lektüre des Buchs entsteht das Gefühl, dass sie sich immer dann, wenn sie etwas sans doute weiß, auf schwankendem Terrain bewegt, etwa bei der Aussage, dass Jeanne sans doute am 6.1.1421 geboren wurde (S. 11). Denn genau dieses Datum ist zweifellos ein Mythos, niemand konnte weder damals noch heute das Geburtsdatum der Jungfrau präzise nennen.
Dennoch ist vieles an diesem Buch sans aucun doute neu, aufschlussreich und diskussionswürdig. Beispielsweise die in der Literatur kaum einmal bemerkte Tatsache, dass Jeanne unmittelbar vor ihrer Hinrichtung einer zweiten Bußpredigt unterworfen wurde, nachdem sie doch schon einige Tage zuvor auf dem Friedhof von Saint-Ouen ihren Irrtümern abgeschworen hatte. Diese Abschwörung hatte sie ja später widerrufen, und deshalb wurde sie dann verbrannt. Vorher muss sie aber ein zweites Mal abgeschworen haben, denn anders lässt sich nicht erklären, dass sie noch vor ihrer Verbrennung die Kommunion erhielt. Dies hieße allerdings, dass die information posthume, also ein nach dem Tode der Jungfrau von Bischof Cauchon ausgestellter Bericht über eine solche zweite Abschwörung, zutreffend wäre. Und das ist spannend, weil eben diese information posthume so verfahrenswidrig war, dass sich die Urkundenbeamten weigerten, sie in das Protokoll des Prozesses aufzunehmen – bis heute ist ihr Quellenwert sehr umstritten.
Ein weiteres Beispiel zur finesse der Gedanken der Autorin: Sie analysiert (S. 36f.) die in den Berichten der Zeitzeugen immer wieder erwähnten Tränen, die seitens des Volkes, der Prozessbeteiligten und auch der Engländer geflossen sein sollen. Gauvard stellt das in einen Zusammenhang mit dem spätmittelalterlichen Tränen-Topos und folgert, wohl zu Recht, dass diese vielen Tränen ein sicheres Zeichen dafür sind, dass der Prozess schon damals von den allermeisten als ungerecht empfunden wurde. Wichtig ist auch die Beobachtung, dass sich erst im Prozess die Zunge der Jungfrau gleichsam löste und dass aus den »Stimmen«, die bisher ihr Handeln geleitet hatten, Schritt für Schritt geradezu körperlich konkrete Heilige wurden. Diese Beobachtung ist zwar nicht ganz neu, kann aber dazu verhelfen, dieses hochinteressante Thema stärker in die Erzählung der Geschichte der Jungfrau einzubringen, als dies bislang der Fall war.
Als weiterführend erscheinen auch Gauvards Bemerkungen zur Hexerei, wo man geradezu in jeder Zeile spürt, wie gut diese Historikerin in den geistigen, geistlichen und mentalen Dimensionen jener Zeit zu Hause ist. Zunächst die Feststellung, dass zur Zeit von Jeanne d’Arc Hexerei ein ziemlich neuartiges Phänomen war und dass erst ab ca. 1380 die Vorstellung aufkam, dass Hexen auch im niederen Volk auftauchen und ihr Unwesen treiben können. Und erst ab den 1430er Jahren sei diese sorcellerie populaire zu einem echten Problem geworden, weshalb sich die Inquisition stark auf sie konzentrierte. Die Engländer sahen Jeanne als Hexe an, und die englischen Soldaten flüchteten nicht zuletzt wegen dieser Angst, einer Hexe ausgeliefert zu werden.
So ist Jeanne ja auch der Hexerei angeklagt worden, und in den ursprünglichen 70 Anklageartikeln finden sich immer wieder Hexerei-Vorwürfe. Ist sie aber auch tatsächlich als Hexe verbrannt worden? Die Verfasserin ist wohl dieser Ansicht (S. 114), allerdings ohne dies ganz klar zu sagen (S. 40). Und diese Frage ist doch so entscheidend wichtig! Meines Erachtens wurde der Hexerei-Vorwurf im Laufe des Prozesses fallengelassen, ohne dass die Richter dies öffentlich bekundet hätten. Zunächst hatte ja die im Januar 1431 von englischer Seite durchgeführte Prüfung der Jungfräulichkeit der Gefangenen ergeben, dass sie virgo intacta war, was für das damalige Verständnis des Teufels und seiner Gepflogenheiten ein zwingendes Indiz dafür war, dass sie nicht dem Teufel verfallen sein konnte. Und weiterhin – das hätte Gauvard erkennen und sagen müssen – ist in den definitiven zwölf Anklagepunkten vom Mai 1431 nicht mehr von Hexerei die Rede; auch die Berichte von der auf dem Scheiterhaufen errichteten Tafel lassen den Hexerei-Vorwurf aus. Sehr viel wichtiger für Jeannes Verurteilung wurde der ihr vorgeworfene und auch im Prozess jederzeit spürbare »Hochmut«, die superbia der Jungfrau, denn sie wollte sich keineswegs dem Urteil der Ecclesia militans unterwerfen. Dieses Verhältnis wird von Gauvard allerdings nur ganz summarisch angesprochen.
Zum 1450 begonnenen Revisionsprozess finden sich ebenfalls einige interessante Bemerkungen, etwa die, dass die Richter auch in diesem Prozess keineswegs zur Gänze von der Rechtschaffenheit bzw. sogar Heiligkeit von Jeanne d’Arc überzeugt waren (S. 162f.). Der Inquisitionsprozess von 1431 wird zwar letztlich als ungerecht verworfen, im Verhältnis zu anderen revidierten Prozessen jener Zeit, die die Verfasserin aufs Beste kennt und knapp darstellt, wird jedoch für die Schuldigen nur eine ganz leichte Buße zur Wiederherstellung der Ehre der zu Unrecht verurteilten und verbrannten Jungfrau ausgesprochen. Offensichtlich wollten die Richter des Revisionsprozesses denen von 1431 nicht zu nahetreten.
Resümierend läst sich festhalten, dass die Argumentation von Claude Gauvard vielfältig, lebendig und kontrovers ist. Der Epilog, in dem es um Jeannes Weiterleben in der Erinnerung geht, ist leider zu summarisch und scheint zu eilig hingeschrieben. Auch hätte man bei den vielen Quellenzitaten Verweise auf die zitierten Quellen gewünscht. Aber darauf wurde verzichtet, und auch die Bibliografie ist fast provozierend knapp gehalten. Das ist bedauerlich, ändert aber nichts daran, dass man selten ein so aufregendes und weiterführendes Buch über Jeanne d’Arc hat lesen können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Gerd Krumeich, Rezension von/compte rendu de: Claude Gauvard, Jeanne d’Arc. Héroïne diffamée et martyre, Paris (Gallimard) 2022, 188 p. (L’esprit de la cité. Des femmes qui ont fait la France), ISBN 978-2-070178-55-1, EUR 18,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89147