Kann man ein dickes Buch über den Text einer einzigen Urkunde schreiben? Benoît Grévin hat dieses Wagnis unternommen und eine umfassende Untersuchung der wichtigen und vielkommentierten constitutio oder lex edi(c)talis von 1374 vorgelegt, in der Karl V. das Mündigkeitsalter der französischen Könige festsetzt. Grévin versteht sich dabei als »Texthistoriker« (S. 54) und grenzt sich explizit von rechts- und ideengeschichtlichen, aber auch philologischen Ansätzen ab. Der Fokus liegt also nicht auf dem allgemeinhistorischen Hintergrund, auf dem Vergleich mit verschiedenen Volljährigkeitskonzepten und ähnlichen Gesetzen anderer Reiche, wie man dies z. B. von einer Festschrift zum 650-jährigen Jubiläum dieses ersten französischen »Grundgesetzes« im Jahr 2024 erwarten könnte. Im Mittelpunkt stehen vielmehr der Text des Gesetzes, seine urkundlichen Ausfertigungen sowie die beiden mittelfranzösischen Übersetzungen des 14. Jahrhunderts.
Für eine solche Untersuchung ist niemand besser geeignet als Benoît Grévin, der als directeur de recherche am CNRS arbeitet, sich seit seiner Promotionsarbeit zur Briefsammlung des Piero della Vigna mit spätmittelalterlichen artes dictaminis, Kanzleistilen und -sprachen beschäftigt und zusammen mit Sébastien Barret eine höchst hilfreiche Untersuchung der Arengen der französischen Königsurkunden zwischen 1300 und 1380 (nebst Katalog) vorgelegt hat. Aus dem letztgenannten Forschungskomplex heraus ist auch die vorliegende Arbeit entstanden: Ihren Ausgangspunkt bildete Barrets Fund einer pseudo-aristotelischen Quelle (S. 38), die in die Arenga der constitutio von 1374 eingeflossen ist und deren Identifikation Grévin zur weiteren Untersuchung dieses Gesetzes veranlasst hat.
Der Band beginnt mit einem umfangreichen Vorwort von Olivier Mattéoni, der Grévins Ansatz von der Folie der bisherigen rechts- und verfassungsgeschichtlichen Deutungen der »loi fondamentale« von 1374 abhebt, und mit der absatzweisen Präsentation von lateinischem Text und neufranzösischer Übersetzung. Im ersten von fünf großen Untersuchungsabschnitten skizziert der Verfasser dann knapp den historischen Kontext, die weitere Überlieferung der constitutio sowie deren bisherige Erforschung. Dabei stellt er u. a. die bislang kaum erkannte Bedeutung der volkssprachlichen Übersetzung von 1378 heraus, die den Schlussstein der »collection diplomatique royale« bildet, die Gérard de Montaigu im Auftrag Karls V. erstellt hat (S. 94f.).
Der zweite Großteil – »l’archéologie d’un texte« – bildet das Grundgerüst der textgeschichtlichen Analyse. Grévin bietet hier zum einen eine diplomatische, syntaktische und rhythmische Analyse des Urkundentextes. Er zeigt u. a. überzeugend, dass die herkömmliche Struktur von Arenga, Narratio und Dispositio zwar nicht aufgegeben, aber doch aufgebrochen wird und dass der Schluss der Dispositio durch eine Zusammenfassung gebildet wird, die die Struktur der Urkunde gewissermaßen als Miniatur reproduziert (vgl. dazu die schematische Übersicht, S. 154). Zum anderen analysiert er die Quellen, aus denen die Autoren des Urkundentextes für die Gestaltung insbesondere von Arenga und Narratio geschöpft haben; dabei gelingt die Identifikation einer Anzahl neuer Vorlagen (vgl. dazu die Übersicht auf S. 41–49 sowie die genaue Auflistung sämtlicher eruierter Quellen oder Anklänge auf S. 525–529). Er unterstreicht abschließend, dass der Text aus verschiedenen philosophisch-theologischen, juristischen, historischen und rhetorischen Vorlagen schöpft, ohne dass man die Scheidung zwischen den genannten Bereichen allzu strikt ansetzen dürfe: »Il existait [...] en dépit des antagonismes institutionnels et catégoriels, et des oppositions de pensée nées de ces spécialisations, une culture commune à l’ensemble de ces clercs et intellectuels [...], culture dans laquelle un savoir de base rhétorique, biblique et classique était déterminant« (S. 279f.).
Der kurze dritte Untersuchungsabschnitt verortet die constitutio allgemeiner im Feld der »rhetorischen« (bzw. Notariats-)Kulturen des französischen Königreichs im 14. Jahrhundert. Im vierten Großteil – »le sens de l’acte« – bietet der Verfasser eine poetisch-einfühlsame »Nachdichtung« des Urkundentextes, dessen Sinn in ebenso detaillierter wie umfassender Interpretation entwickelt wird. Der fünfte Untersuchungsabschnitt fragt schließlich nach den Autoren des Textes. Grévin nimmt hier verschiedene mögliche Beteiligte in den Blick, von denen zwei sicher benannt werden können: zum einen der unterzeichnende Notar, zum anderen Karl V. als Urkundenaussteller. Darüber hinaus fragt er danach, durch welche Personen das »artistische« bzw. theologische und das juristische Gedankengut in die Urkunde eingebracht worden sein könnte; der Verfasser benennt den Aristoteles-Übersetzer Nicole Oresme und den Dekretisten Évrard de Trémaugon, die beide im Auftrag Karls V. wichtige Werke verfassten und auch als seine Räte fungierten (allerdings erst nach Promulgation der constitutio, und im Falle des Nicole Oresme wohl auch ohne Beteiligung am Regierungsgeschäft). Der Rezensent ist von dieser Identifikation – die im Übrigen mit der Einschränkung des bloß »Wahrscheinlichen« versehen wird – weniger überzeugt als vom Rest der Arbeit. Tatsächlich stellt sich im ganzen fünften Großteil die Frage nach dem Stellenwert der dort erzielten Ergebnisse. Zwar gelingt es dem Verfasser überzeugend herauszuarbeiten, dass in der Urkunde Gedankengut verarbeitet wird, das wenige Jahre zuvor oder danach auch in den Schriften der beiden genannten Gelehrten zu finden ist. Lassen sich daraus indes Rückschlüsse auf die Autorschaft der constitutio ziehen (vgl. zusammenfassend S. 483: »De même que l’artien [= Oresme], le juriste [= Trémaugon] a vraisemblablement imposé ses thèmes«)? Belegen die aufgezeigten Parallelen nicht vielmehr vor allem die Zirkulation bestimmter Texte und Konzepte oder auch die Kenntnis der oresmianischen Aristoteles-Übersetzungen im Umfeld des königlichen Hofes?
In der Einleitung hatte Grévin in knappen Worten das Programm und die zentrale Aufgabe des texthistorischen Ansatzes umrissen: »remettre en question le fond d’un document par l’étude approfondie de sa forme« (S. 54). Ist es ihm gelungen, diesen Anspruch einzulösen? Ohne jeden Zweifel versteht man den inhaltlichen und formalen Aufbau der constitutio und ihre Verhaftung in den rhetorischen und intellektuellen Kulturen des Spätmittelalters nach der Lektüre des Werkes besser. Auch jenseits der Beschäftigung mit dem eigentlichen Gesetzestext eröffnet die Arbeit eine Anzahl weiterführender Perspektiven. Dies gilt etwa für die Einschätzung von Michel Pintoins Bericht über die Beratungen zum Regierungsantritt Karls VI. im Jahr 1380; in partiellem Gegensatz etwa zu Yann Potin zeigt Grévin auf, dass die dort wiedergegebenen Reden Elemente des Gesetzestextes literarisch verarbeiten und insofern wohl nicht als Reflex der tatsächlichen Beratungen zu verstehen sind (S. 103, Anm. 52).
Wichtiger als die Frage, ob die texthistorische Untersuchung am Ende tatsächlich zu einem neuen Verständnis des Untersuchungsgegenstandes führt, scheint dem Rezensenten indes folgender Gedanke: Grévin rekonstruiert am Beispiel der constitutio in gewisser Weise die microstoria eines Dokuments und eröffnet seinen Lesern dadurch Einblicke in ein Universum von Texttraditionen und Kulturpraktiken, das auch dem Fachpublikum angesichts des weitgehenden Abbaus der historischen und philologischen Grundlagenwissenschaften zunehmend verschlossen bleibt. Insofern könnte man als Paradox formulieren: Grévins Buch über die »première loi du royaume« wäre weniger wichtig, wenn es mehr (Text-)Historiker wie ihn gäbe.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Georg Jostkleigrewe, Rezension von/compte rendu de: Benoît Grévin, Olivier Mattéoni, La Première Loi du royaume. L’acte de fixation de la majorité des rois de France (1374), Paris (Classiques Garnier) 2021, 615 p. (Histoire du droit, 9), ISBN 978-2-406-09900-0, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89149