Die Existenz einer päpstlichen Vita beeinflusst nicht nur die Art und Weise der Rezeption von Leben und Werk des jeweiligen Pontifex, sondern kann zuweilen sogar mit als Grundlage dafür angesehen werden, dass es überhaupt zur Verankerung eines Papstes im allgemeinen sowohl kurialen wie geschichtswissenschaftlichen Bewusstsein kommt. Für die lange Zeit, die es in der Forschung brauchte, bis etwa Honorius III. eine umfassende moderne biografische Würdigung erfuhr, scheint das Fehlen einer solchen, man möchte sagen, offiziösen Taten- und Lebensbeschreibung mitverantwortlich zu sein. Auch die Größe und Bedeutung eines Vorgängers, insbesondere eines Innocenz III., dessen »Gesta« in den vergangenen dreißig Jahren verstärkt das Interesse der Forschung erregt haben, was mit der intensiven Auseinandersetzung mit seinem Pontifikat allgemein, der Edition seiner Register und diverser Einzelstudien in engstem Zusammenhang steht, konnte einen ihm nachfolgenden Papst im Schatten verschwinden lassen.

Dies scheint mit Einschränkungen auf Gregor IX. zuzutreffen, sodass es Wendan Li ausgehend von der »Vita Gregorii IX.« in ihrer Dissertation unternimmt, die Basis für eine Gesamtschau und umfassende (Neu )Interpretation eines Papstes zu liefern, der vor allem durch seinen Konflikt mit Friedrich II. und die Anlage des »Liber Extra« im Gedächtnis geblieben war; dessen Pontifikat jedoch deutlich mehr Facetten aufzuweisen hat. Ausgehend von einer intensiven hilfswissenschaftlichen und auf einige Teilaspekte konzentrierten sprachlichen und inhaltlichen Analyse des Werkes, mit dem Bemühen, ihn aus dem Schatten, sowohl Innocenz’ III. als auch des Stauferkaisers, mithin aus der Rolle eines bloß epigonalen Nachfolgers bzw. eifernden Kontrahenten ins Licht eines von der Kurie selbst entworfenen Bildes zu stellen, ist die Studie dem Ansatz nach im Kontext von Studien der neueren (Papst )Forschung zum zeitgenössischen Bewusstseins- und Wahrnehmungshorizont angesiedelt.

Dabei stellt die Autorin am Beginn klar heraus, dass es sich aufgrund des stark perspektivischen Charakters der Quelle zunächst um eine Analyse der durch den/die Vitenverfasser geprägten Darstellung und Wahrnehmung resp. Wirkungsabsicht handeln muss, im Einzelfall dennoch Rückschlüsse auf die historische Wirklichkeit gezogen werden können und mindestens ein neues Licht auf andere Überlieferungsformen geworfen werden kann. Die insgesamt acht Abschnitte umfassende Arbeit gliedert sich in einen hilfswissenschaftlich-philologischen Teil, der den eigenwilligen Überlieferungszusammenhang im »Liber Censuum« (Kap. 2) sowie Aufbau, Konzeption und Sprache im Kontext der mittelalterlichen Papstgeschichtsschreibung in den Blick nimmt, überdies präzise und reflektiert der Verfasser- und Datierungsfrage (letztere mit neuem Datierungsvorschlag) nachgeht (Kap. 3). Der zweite Teil hebt an mit einem ausführlichen strukturellen Vergleich mit der Darstellung im »Liber pontificalis« (Kap. 4) und bietet eine inhaltliche Analyse dreier programmatischer Aspekte: der Funktion des Werkes im Zusammenhang der Herrschaft des Kirchenstaates (Kap. 5), seines Charakters als Legitimationsinstrument im Konflikt mit Kaiser Friedrich II. (Kap. 6) sowie schließlich der damit zusammenhängenden Konstruktion eines Selbst- und eines Feindbildes (Kap. 7).

Die kodikologische und philologische Analyse ist präzise und anhand diverser Grafiken und tabellarischer Gegenüberstellung von Textstellen übersichtlich und überprüfbar gestaltet. Daneben bieten die am Ende der jeweiligen Abschnitte stehenden Zusammenfassungen nicht nur eine bequeme Orientierung, sondern ermöglichen zugleich, die Arbeit dank der Geschlossenheit ihrer einzelnen Teile auch als Nachschlagewerk zu Einzelaspekten der »Vita« zu verwenden. Farbige Abbildungen aus dem zentralen Codex Ricc. 228 machen die kodikologischen Ausführungen zudem visuell ansprechend. Die Darstellung und Argumentation ist im Ganzen stringent und verzichtet auf unangemessene Ausschmückung und Redundanz, was es zusätzlich zu der sachlichen und sprachlichen Qualität lobend hervorzuheben gilt.

Methodisch sieht sich die Studie im Spannungsfeld von Vorstellungs und Wahrnehmungsgeschichte sowie älteren geschichtswissenschaftlichen Paradigmata angesiedelt, wobei die Autorin bemerkt, es fehle bisher »eine größere Untersuchung, die ein Beispiel dafür gebe, wie sich die neue Methode […] mit den traditionellen Fragestellungen der Politik-, Sozial- und Strukturgeschichte verbinden ließe« (S. 15). Ob das Zusammenführen »der subjektiven und objektiven Wirklichkeit« (S. 318) – letztere offenbar vor allem als Ereignisgeschichte begriffen (S. 14) –, das als wesentliche in dieser Studie geleistete methodische Weiterentwicklung im Umgang mit mittelalterlicher Geschichtsschreibung im Schlussfazit dargestellt wird, tatsächlich neu ist, bliebe anhand der weiteren Forschungslage zu prüfen.

Indizien für die Beantwortung der Verfasserfrage werden auch über das entsprechende Kapitel hinaus gesammelt und ergeben laut Autorin jedenfalls eine Person, die im Singular angenommen wird und die aufgrund ihrer Kenntnisse zu internen Abläufen in der unmittelbaren Umgebung des Papstes, wohl seiner Kammer, zu vermuten ist. Wiederholt wird der uneheliche Neffe Gregors IX., Nikolaus von Anagni, als möglicher Vitenverfasser ins Spiel gebracht, ohne dass dabei aufgrund der Quellenlage freilich Gewissheit erzielt werden könnte. Inwieweit der wissenschaftliche Drang nach Fixierung einer konkreten Autoren-Person zwingend notwendig ist, bleibt in solchen Fällen grundsätzlich zu fragen; das betrifft nicht nur die mittelalterliche Geschichtsschreibung.

Wendan Lis Unternehmen, ausgehend von einer zentralen Quelle, einer Neubewertung Gregors IX. Bahn zu brechen und zugleich den Blick auf das kuriale Selbstverständnis und allfällige Legitimationsstrategien vor dem Hintergrund bestehender Narrative zu lenken, erscheint angesichts neuerer kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze sehr berechtigt und darf in der vorliegenden Form einer detaillierten quellenkritischen Analyse, die Materialität, Überlieferungskontext und Sprache ausreichend Raum gibt, wohlbegründete Vergleiche hinsichtlich der Komposition und Erzählstrategie vornimmt sowie wichtige Schlaglichter auf inhaltliche Einzelaspekte der Darstellung wirft, als in höchstem Maße gelungen bezeichnet werden.

Auf eine darauf aufbauende fruchtbare Weiterentwicklung der Forschung um Gregor IX. darf man gespannt sein.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Aaron Schwarz, Rezension von/compte rendu de: Wendan Li, Die Vita Papst Gregors IX. (1227–1241). Papst und päpstliches Amt in kurialer Sicht, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2021, 373 S., 13 farb. Abb., 14 Tab., 1 Karte (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 9), ISBN 978-3-412-52128-8, EUR 60,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89159