Die Zisterze Kaisheim wurde 1134 als Tochter von Lucelle (Lützel) gegründet. Im oberschwäbischen Raum hatte das Kloster – wie Patrick Monjou in einer umfangreichen Einführung darlegt – »une réelle visibilité dans la vie religieuse« (S. 30). Misst man Erfolg einer Zisterze an der Gründung von Tochterklöstern, so agierte Kaisheim auch in dieser Beziehung erfolgreich. 68 mittelalterliche Handschriften aus Kaisheim haben sich in der Staatsbibliothek München erhalten, davon rund ein Drittel Predigten bzw. Praedicabilia.
Wenig ist über den Zisterzienser Bernold von Kaisheim (Bernoldus Caesariensis) bekannt, der als notarius seines Klosters fungierte. Um 1310 verfasste er eine Sammlung von 154 Predigten für das Kirchenjahr (de tempore) und für Heiligenfeste (de sanctis), die handschriftlich unter dem Titel »Themata de tempore et de sanctis« verbreitet wurde. Diese Predigten sind Gegenstand einer Edition, die Patrick Monjou im Rahmen einer an der dominikanischen Fernuniversität Domuni entstandenen Masterarbeit erarbeitet hat. Für jeden Sonn- und Festtag werden von Bernold mindestens zwei Musterpredigten geliefert, die allerdings wenig mehr als einfache Predigtgerüste bieten: keine umfasst mehr als 20 Zeilen. Bernold folgt dabei der von den zeitgenössischen Predigtlehren (Artes praedicandi) vorgegebenen Struktur: auf das Thema folgt die Unterteilung desselben in zwei, drei oder vier Teile (in verbis propositis dua facit/tria innuit attendenda). Die Weiterführung (prosecutio) der einzelnen Teile enthält wenig mehr als Hinweise auf biblische bzw. patristische Autoritäten. Was Bernolds Werk freilich zu etwas ganz Besonderem macht, ist der am Ende jeder Predigt zu findende Verweis auf einschlägige Passagen im »Compendium theologicae veritatis« des Hugo Ripelin von Straßburg († um 1270).
Die Originalhandschrift von 1310 ist verloren. Zwei vollständige Textzeugen vom Ende des 15. Jahrhunderts haben sich aber erhalten (Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek 4o Cod. 211; Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek. Guelf. 71. 10. Aug. 2o). Eine in der Innsbrucker Universitätsbibliothek verwahrte Handschrift (779 [Q. 6]) bricht nach der 118. Predigt ab. Hinzu kommen drei Inkunabeln, die zeitgleich mit den überlieferten Handschriften entstanden sind. Auszüge aus den »Themata« finden sich jedoch in sehr viel mehr Handschriften.
Bernold ist kein Gelehrter. Seine »Themata« verfasst er als Mann der Praxis, der um die Nöte all derjenigen Prediger weiß, denen entweder das Wissen um theologische Sachverhalte oder schlichtweg die Zeit zur Vorbereitung ihrer Predigten fehlt. Die »Themata« sind als zeitlich »en amont de la prédication effective« (S. 56) anzusiedelndes Hilfsmittel zu verstehen, das der Inspiration dient. Die Reduktion auf das Allernötigste ist Grund für die vollständige Absenz der im späten Mittelalter so beliebten Beispielerzählungen (Exempla), durch die theologisch Komplexes verständlich aufbereitet in der Lebenswirklichkeit der Zuhörer bzw. Leser verortet werden konnte. Unter Umständen ist dabei aber auch die grundsätzliche Abneigung der Zisterzienser gegenüber Exempeln in Rechnung zu stellen. Als »alter Orden« taten sie sich schwer damit, hier zu den in der Predigtpraxis so erfolgreichen Vertretern der Bettelorden aufzuschließen. Doch Bernolds Musterpredigten dürften selbst in der vorliegenden Gestalt sine exemplis als »sermon squelettique« ihren Zweck erfüllt haben.
Was die Themata zu einem Solitär innerhalb der Musterpredigtsammlungen werden lässt, ist die Umdeutung des im »Compendium theologicae veritatis« zusammengeführten Materials. Aus für den universitären Unterricht bestimmten Lehrtexten wurde durch die Arbeit Bernolds eine materia praedicabilis. Ein Handbuch der Theologie (Compendium) wurde für die Pastoral »gängig« gemacht.
Die Themen, die Bernold seinen Predigtgerüsten zugrunde legt, entstammen in ihrer großen Mehrzahl dem Neuen Testament. 124 »Themata« aus dem Neuen (81%) stehen 29 aus dem Alten Testament (19%) entgegen. Die Gewichtungen verschieben sich mit Blick auf die im Gesamttext angeführten Bibelstellen: Monjou verzeichnet hier 210 Zitate aus dem Neuen und 108 Zitate aus dem Alten Testament. Wie so oft im Mittelalter der Fall, glänzt ein Evangelium mit Abwesenheit: dasjenige des Markus. Guy Lobrichon hatte es bereits 2003 als »le grand oublié de toute exégèse médiévale« bezeichnet. So solide und kleinteilig sich Monjous Einführung in Bernolds Werk präsentiert: hierzu hätte man gerne etwas mehr erfahren (und auch eine Unart in der Zitierpraxis stört, denn häufiger werden Originalzitate lediglich »aus zweiter Hand«, d. h. unter Rückgriff auf die Sekundärliteratur, nachgewiesen).
Nicht-biblische Autoritäten sind (wie so oft in zisterziensischen Predigten) eine rare Spezies: Augustinus steht mit elf expliziten Nennungen an der Spitze, gefolgt von Bernhard von Clairvaux mit fünf. Neben der Bibel fungiert das »Compendium« als Hauptquelle der Predigtskelette. Immerhin 45% der 297 Kapitel des »Compendium« werden von Bernold verwendet, allerdings mit stark unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Bücher mit Buch V (De sanctificatione gratiarum) an der Spitze, den eschatologisch-christologischen Erwägungen in Buch VII (De ultimis temporibus) am Schluss. Klar an pastoralen Erfordernissen ausgerichtet, war es Bernold wichtig, Tugenden und Lastern ihren Rang zuzuweisen. Prediger, die für ihre Sermones aus den »Themata« schöpften, sollten ihre Zuhörer/Leser zu einer Änderung ihres (moralischen) Verhaltens anhalten und ihnen die Relevanz der Sakramente, insbesondere der Eucharistie, immer wieder ins Bewusstsein rufen.
Vorliegende Edition fußt auf der vergleichsweise wenige Fehler aufweisenden Handschrift Wolfenbüttel, die mit der Handschrift Augsburg abgeglichen wurde. Der textkritische Apparat enthält zunächst die nicht aus Wolfenbüttel übernommenen Lesarten, dann die Varianten, die sich in Augsburg und den Inkunabeldrucken finden. Der Nachweis der Zitate erfolgt erst en bloc am Ende der eigentlichen Edition. Der Leser wird die dem lateinischen Text beigegebene französische Übersetzung zu schätzen wissen, die mit großem Sachverstand und sehr viel Sprachgefühl verfasst wurde. Die Studie trägt ohne Zweifel dazu bei »de lever un voile sur une tranche de vie religieuse dans le sud de l’Allemagne au début du XIVe siècle« (S. 139). Ohne das »Compendium« wären die »Themata« wenig mehr als ein Gebäude, von dem lediglich ein grober Architektur-Grundriss vorliegt, ohne Wände und Decken. Ohne die »Themata« wäre es dem »Compendium« andererseits aber wohl nie gelungen, den Weg aus dem Studiensaal hinaus auf Predigtkanzeln und Plätze zu finden. Der Rezensent glaubt nicht, dass Masterarbeiten unbedingt gedruckt werden müssen. In diesem Fall wäre der Verzicht auf eine Publikation jedoch außerordentlich bedauerlich gewesen. Nicht nur die Zisterzienser- und Predigtforschung wird von der nun vorliegenden Edition profitieren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ralf Lützelschwab, Rezension von/compte rendu de: Patrick Monjou, Comment prêcher à la fin du Moyen Âge? Le manuel de vulgarisation de Bernold de Kaisheim, 2 vol., Toulouse (Domuni-Press) 2021, 160; 235 p., ill. (Théologie), ISBN 978-2-36648-148-8; 978-2-36648-152-5, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89162