Beschäftigt man sich mit der frühchristlichen Hagiografie und den Anfängen der Verehrung weiblicher Heiliger, so wird man um die hl. Thekla und ihre Ausstrahlung im byzantinischen Raum nicht herumkommen. Sie war eine Schülerin des hl. Paulus und gehört damit zu den prominentesten Vertreterinnen des Urchristentums. Zwar begegnet uns die hl. Thekla, die mit vollem Namen Theokleia hieß, weder in den Paulusbriefen noch in der Apostelgeschichte; es sind jedoch aus dem 2. Jahrhundert die sogenannten Akten des hl. Paulus und der hl. Thekla überliefert, die neben der »Vita et miracula sanctae Theclae« des 5. Jahrhunderts schon früh eine Theklatradition entstehen ließen. Eines der Zentren ihrer Verehrung befand sich in Seleukia.
Wie in der Einleitung dieser sehr verdienstvollen griechisch-deutschsprachigen Edition betont wird, enthalten die Akten des 2. Jahrhunderts überwiegend Informationen und Berichte über die hl. Thekla, sodass man von einer späteren Verlagerung des Fokus im Titel auf den hl. Paulus ausgehen kann, aufgrund der ihm zugeschriebenen Frauenfeindlichkeit, die auch in der dargelegten Überlieferungstradition der beiden für die hl. Thekla relevanten Quellen einige Spuren hinterlassen hat. Der genaue Titel der Vita der hl. Thekla lautet allerdings »Taten und Wunder der heiligen Apostolin und Märtyrerin Thekla« und stammt wie die Quelle aus der Feder eines am Heiligtum der Thekla in Seleukia tätigen Klerikers des 5. Jahrhunderts. Dieser war Zeitgenosse von Bischof Basilius von Seleukia, der vermutlich zwischen 438 (448) und 458 (468) amtierte. Innerhalb des Werks ist die Vita dem seit dem 3. Jahrhundert beliebten Genre der Praxeis verhaftet, das einen romanhaften Lebenslauf bevorzugt, sowie der Gattung des Enkomions, der Lobrede (vgl. Einleitung S. 54–56). Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit und ihrer geistigen Nähe zum hl. Paulus habe die Jungfrau und Märtyrerin zahlreiche Wunder gewirkt und ihre Anhänger zum asketischen Leben geführt.
Die Sammlung der Wunder der hl. Thekla ist vermutlich das früheste Kompendium eines derartigen hagiografischen Werks; der Autor habe sich dabei von den paganen Wunderbüchern der griechischen Tempelbibliotheken inspirieren lassen und konnte sich in seiner novellenartigen Ausformung der einzelnen Berichte offenbar auf mündliche Erzählungen (Legenden?) stützen. Zentrales Thema ist in vielen die Erscheinung der hl. Thekla bei Kranken, wobei die griechische Tradition des Heilschlafes bei Krankheit offenbar in den Höhlenkirchen als Wundermittel auf christlicher Ebene weiterhin praktiziert wurde. Auch war sie erfolgreiche Schutzheilige von Seleukia und anderen griechischen Städten bei deren Belagerung durch Feinde. Als moralische Instanz soll Thekla auch Strafwunder gewirkt haben, mit denen sie normwidriges Verhalten meist tödlich geahndet habe. Sogar die Schreibperspektive des Verfassers fand Billigung durch die Heilige, die ihm beim Schreiben visionär erschienen sei, an seinem Text Vergnügen gefunden und ihn zur Fortsetzung der »Miracula«-Berichte aufgefordert habe; seinen Namen gab er nicht preis.
In der Vorrede zur Vita betont er, eine geschichtliche Darstellung des Lebens der seligen Märtyrerin geben zu wollen, distanziert sich jedoch insofern von Herodot und Thukydides, die aus eigenem Antrieb geschichtliche Darstellungen verfassten, als er durch eine göttliche Stimme und einen weisen Mann namens Aichaios dazu aufgefordert worden sei, der – so der Kommentar der Bearbeiter – auch sonst in Werken der damaligen Theklaverehrung hervortritt (S. 78f).
Bei der Lektüre dieser außergewöhnlichen Quelle fallen Sprachmuster und Topoi auf, die in späteren hagiografischen Werken des Früh- und Hochmittelalters facettenartig eingesetzt werden, ohne freilich die stilistische narrative Kunst des griechischen Verfassers der »Vita et miracula sanctae Theclae« zu erreichen.
Das klare Verzeichnis der Werkabkürzungen sowie der bibliografischen Abkürzungen und ein übersichtlich gestaltetes Quellen- und Literaturverzeichnis reflektieren die Bildung des klerikalen Verfassers in Seleukia, der in seinem Werk paganes Wissen in die byzantinische Welt integriert und das Frühchristentum wie das Wirken der Apostolin Thekla vorbildhaft den nächsten Generationen überliefert hat, sowie die Hochschätzung der hl. Thekla bei den Kirchenvätern. Die Überlieferung der Textzeugnisse stammt aus spätbyzantinischer Zeit (Handschriften des 10.–13. Jahrhunderts), wobei »Vita et miracula« immer eine Einheit bilden und sich die Vita in vier zyklische, an den Kultstätten der hl. Thekla entstandene Erzählungen gliedert. Die Bearbeiter gehen davon aus, dass die kultische Verehrung der hl. Thekla von Pseudo-Basilius und Aichaios um die Mitte des 5. Jahrhunderts auf eine neue Basis gestellt wurde, die sich deutlich von der des hl. Paulus abheben sollte. Es wäre zu untersuchen, ob damit nicht ganz gezielt eine Stärkung der weiblich-christlichen Bevölkerung an den Orten der Verehrung der hl. Thekla angesprochen werden sollte, denn die Heilige bestrafte in ihren Strafwundern auffällig viele Männer.
Mit dieser schönen Edition wurde der Text der »Vita et miracula sanctae Theclae« erstmals in deutscher Sprache publiziert. Zu Hilfe genommen wurde dabei aber auch der mit der griechisch-französischsprachigen Edition der Quelle durch G. Dagron erreichte Forschungsstand von 19781.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Adelheid Krah, Rezension von/compte rendu de: Pseudo Basilius von Seleukia, Vita et miracula sanctae Theclae – Leben und Wunder der heiligen Thekla. Eingeleitet und kommentiert von Bernd Kollmann. Übersetzt von Burghard Schröder, Freiburg im Breisgau (Herder) 2021, 406 S. (Fontes Christiani, 93), ISBN 978-3-451-32946-3, EUR 52,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89170