Im Mai 2019 wurde mit der St. Hildegard-Akademie Eibingen ein »Zentrum für Wissenschaft, Forschung und europäische Spiritualität« aus der Taufe gehoben, das sich die Erforschung des Lebenswerkes der genau sieben Jahre zuvor von Papst Benedikt XVI. heiliggesprochenen Benediktineräbtissin zum Ziel gesetzt hat und die Forschungsergebnisse auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Die von der Akademie überdies angestrebte Beschäftigung mit »europäischer Spiritualität« bringt offenbar Erklärungsbedarf mit sich, auf welchen der hier anzuzeigende Band antworten soll. Erwartungsgemäß wird darin die Frage nach der Existenz einer genuin europäischen Spiritualität entschieden bejaht, sodass den Beiträgen des Bandes die Aufgabe zukommt, das Profil jener – zunächst einmal postulierten – Geistigkeit und der ihr korrelierenden Lebensgestaltung zu erhellen.

Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert, die von der »Grundlegung – europäisch und spirituell« über die »Darlegung aus theologischen Quellen« schließlich zur »Profilierung am Lebenswerk der Hildegard von Bingen« führen und jeweils drei Beiträge umfassen. Diese vielleicht nur zufällige trinitarische Grundstruktur des Bandes setzt sich in den einzelnen Aufsätzen weiter fort, denn wie die Herausgeberin und ausgewiesene Hildegard-Expertin Maura Zátonyi OSB in ihrer knappen Einleitung (S. 7–9) erläutert, sollten sich die Beitragenden dem Phänomen europäischer Spiritualität jeweils unter den drei Gesichtspunkten (Begriffs-)Bestimmung, Quelleninterpretation und Gegenwartsbezug annähern.

Walter Kardinal Kasper versteht Spiritualität in seinem eröffnenden Beitrag (S. 13–25) als begriffliche Klammer für eine Fülle geistlicher Lebensformen, deren spezifisch christlicher Charakter in der Vereinigung von tätiger Nächstenliebe und kontemplativer Betrachtung des Göttlichen liege. Angesichts nicht näher benannter Gegenwartskrisen und der von ihm als allzu diesseitig empfundenen Werteorientierung der europäischen Staatengemeinschaft hält der Autor eine Rückbesinnung auf die historisch gewachsene christliche Spiritualität sowie deren Wiederbelebung (S. 17: »zweite Evangelisierung«) für dringend geboten, ja geradezu »lebens- und überlebensnotwendig« (S. 15). Aus der Perspektive eines langjährigen Diplomaten und Experten für interreligiösen Dialog schildert Michael H. Weninger (S. 27–56) die Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit nach 1945 unter dem Aspekt der Rolle der Kirchen. Er zeichnet das Bild einer von den Kirchen und Religionsgemeinschaften mühsam errungenen Anerkennung als europapolitische Partner und Akteure, deren Beitrag zum Integrationsprozess maßgeblich im Vertrag von Lissabon gewürdigt wurde. Klaus Albert Bauer lenkt den Fokus auf das musikkompositorische Schaffen Hildegards von Bingen und die Frage nach dem Platz der Musik im Wechselverhältnis von Kontemplation und Tätigsein (S. 57–75). Ausgehend von den klangvollen Visionserlebnissen Hildegards und ihren Reflexionen über geistliche Gesänge beschreibt der Autor – selbst aktiver Dirigent – das Komponieren, Einüben und Hören von klassischer Musik gleichermaßen als meditative Erfahrungen in Parallele und Kontinuität zur Musikpraxis der mittelalterlichen Klöster.

Kontinuitätslinien spiritueller Art sind auch der zentrale Gegenstand des Beitrags von Maura Zátonyi (S. 79–111), die sich einer bemerkenswerten Handschrift widmet. Der noch dem früheren Mittelalter angehörende Pariser Codex Latin 15 032 verbindet die einschlägigen hagiografischen Werke über Martin von Tours und Benedikt von Nursia mit einer exzeptionell reich glossierten Abschrift der Benediktsregel, was der Autorin Anlass zu einer theologischen Zusammenschau der Texte gibt. Die nachvollziehbar als Leitmotive herausgearbeiteten Gedanken identifiziert sie als konstitutive Elemente einer monastisch geprägten Spiritualität, für die Versenkung im Gebet und Dienst am Nächsten keine Gegensätze darstellen. Demgegenüber versucht Frank Höselbarth (S. 113–148) zu zeigen, dass Johannes Cassian im frühen 5. Jahrhundert die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vita contemplativa und Vita activa rigoros zugunsten der Gottesschau entschieden und damit nachhaltigen Einfluss auf die Theologie und Spiritualität des entstehenden okzidentalen Mönchtums ausgeübt habe. Erst um 1300 werde bei dem Dominikanerprediger Meister Eckhart mit dessen neuartiger Auslegung der Maria-Martha-Perikope ein Paradigmenwechsel hin zu einer »Spiritualität des aktiven Lebens« (S. 132, 137) greifbar, was jedoch in Anbetracht vielfältiger monastischer Stellungnahmen zum spirituellen Wert aktiver Lebens- und Weltgestaltung mindestens diskutabel erscheint. Etwas aus dem Rahmen der übrigen Beiträge fällt der religionsphilosophisch ausgerichtete Essay Günter Krucks (S. 149–162), der ausgehend von der christlichen Mystik im Umfeld Meister Eckharts und Johannes Taulers – näherhin dem als »Theologia Deutsch« bekannt gewordenen Traktat – die Hegelsche Kritik des unmittelbaren Wissens thematisiert und hieraus Schlüsse zieht für den Gottesbegriff in der modernen Theologie.

Den dritten Abschnitt des Bandes eröffnen Eberhard J. Nikitsch und Maura Zátonyi mit einem gemeinsamen Aufsatz über gebaute und visionär geschaute Räume auf dem Disibodenberg, Hildegards erster und langjähriger Wirkungsstätte (S. 165–183). Während Nikitsch plausible Argumente für die vermutete Lage und Beschaffenheit der beiden Frauenklausen im Bereich des Benediktinerklosters vorbringt, befragt Zátonyi im Anschluss den »Liber Scivias« danach, inwieweit sich hierin möglicherweise Wahrnehmungen der realen Landschaft und Architektur manifestieren. Neues Licht auf den historischen Entstehungs- und Wirkungskontext von Hildegards prophetischem Erstlingswerk wirft Matthias Schmandt, indem er die offenbar auch im Kloster Disibodenberg präsenten Einflüsse der Kreuzzugsbewegung fokussiert (S. 185–215). Hildegard engagierte sich demnach als Seherin aktiv in der Werbung für den Zweiten Kreuzzug, dessen Scheitern redaktionelle Eingriffe in den »Liber Scivias« und das Briefkorpus veranlasst haben dürfte, um Hildegards Endzeitprophetien ihre tagespolitische Brisanz zu nehmen oder nunmehr womöglich kompromittierende Schreiben zu unterdrücken. Ein mit 72 Miniaturen ausgestattetes Gebetsbuch, das zwar nicht von Hildegard verfasst, wohl aber ganz auf ihre persönlichen spirituellen Bedürfnisse im hohen Alter abgestellt war und sich im Besitz der Äbtissin befand, rückt Michael Embach (S. 217–236) in das Zentrum seines Beitrags. Bilder und Gebetstexte der Münchener Handschrift Clm 539 zeigten mit ihrer Christuszentrierung deutlich, »dass Hildegards Spiritualität sich den Tendenzen einer modernen, zisterziensisch geprägten Frömmigkeit öffnete« (S. 231).

Den Band beschließen ein Autorenverzeichnis sowie der Abbildungsteil mit den entsprechenden Bildnachweisen, wohingegen auf ein Register leider verzichtet wurde. Insgesamt hinterlässt das Werk beim Rezensenten einen recht gemischten Eindruck. So stehen eher übergreifende Beiträge, die eine christlich-europäische Spiritualitätsgeschichte umreißen, überwiegend profunden Spezialuntersuchungen zu konkreten historischen oder theologischen Phänomenen gegenüber, zudem lösen bei Weitem nicht alle Texte die eingangs formulierten Vorgaben in gleichem Maße ein. Für Mittelalterhistorikerinnen und -historiker dürften in erster Linie die Hildegard von Bingen und der monastischen Frömmigkeit gewidmeten Beiträge Anschlusspotenzial besitzen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Kai Hering, Rezension von/compte rendu de: Maura Zátonyi, in Verbindung mit Frank Höselbarth (Hg.), Europäische Spiritualität. Kontemplation im Wirken, Münster (Aschendorff) 2021, 246 S., ISBN 978-3-402-24759-4, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2022/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89225