In den letzten Jahren hat die Frage, ab wann (zumindest mit Bezug auf Westeuropa und Nordamerika) von Konsumgesellschaften gesprochen werden kann, eine Neubewertung erfahren. Galt klassischerweise die Phase des Massenkonsums ab 1945 als »Durchbruch« der Konsumgesellschaft, so betont die jüngere Forschung stärker den langfristigen Prozess einer Entwicklung des spezifisch »modernen Konsums« im Rahmen kapitalistischer Wirtschaftsordnungen seit dem 19. Jahrhundert1.
In diesem Kontext ist auch Anaïs Alberts Studie zum Konsum der classes populaires im Paris der Belle Époque zu verorten, die aus einer 2014 an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne abgeschlossenen Dissertation hervorgegangen ist. Albert deutet die Belle Époque als Scharnierphase, in der sich dank der Entstehung erster Massenmärkte neue Konsummöglichkeiten für breite Bevölkerungsschichten erschlossen (S. 27–30). Diese Konstellation nimmt sie »von unten« in den Blick und fragt nach den Spezifika des Konsums der classes populaires, einem Konglomerat aus Arbeitern, Angestellten, Handwerkern, kleinen Ladenbesitzern und dem niederen (vor allem städtischen) öffentlichen Dienst. Bereits hier wird der sozialhistorische Zugang der Studie deutlich: Albert versteht diese Gruppe als Klasse (im Sinne einer real existierenden Formation) und wirbt für eine Rückkehr der Geschichte von Klassen in die historiografische Forschung, was zumindest Leserinnen und Leser von außerhalb der französischen Sozialgeschichte in dieser Form eher irritieren dürfte (S. 30–32)2. Die Autorin grenzt sich explizit von der Kulturgeschichte des Konsums ab und formuliert als Ziel eine »réelle histoire sociale de la consommation« (S. 25). Diese soll die Fragen nach dem Grad, in dem neue Konsumformen den Alltag der classes populaires durchdringen, sowie nach der gruppen- und klassenbildenden Wirkung von Konsum in den Fokus nehmen (S. 22–26).
Der Versuch, den Alltag dieser Gruppe sichtbar zu machen, prägt auch den methodischen Zuschnitt der Arbeit. Albert operiert mit enggeschnittenen lokalen Fallstudien, die einzelne Arrondissements oder relevante Institutionen des populären Konsums untersuchen. Um den Mangel an Quellen von Akteuren aus den classes populaires auszugleichen, greift sie dabei auf Ansätze der Objektgeschichte zurück, die sie mit soziologischen und ethnologischen Ansätzen verknüpft. Diese Heterogenität der Ansätze ist auch der Vielzahl unterschiedlicher Quellentypen geschuldet, die Albert in intensiver Kleinarbeit aus unterschiedlichsten Archiven zusammengetragen hat.
Inhaltlich gliedert sich die Studie im Wesentlichen in drei Teile: Der erste Teil (Kapitel 1 und 2) widmet sich der materiellen Kultur der classes populaires. Unter Rückgriff auf Inventarlisten der Friedensrichter aus dem Jahr 1894 rekonstruiert Albert den Besitz der Haushalte im 10. und 14. Arrondissement und die zunehmende Verbreitung bestimmter Gegenstände in verschiedenen Untergruppen der classes populaires. Kapitel 3 widmet sich der Infragestellung der neuen Konsummöglichkeiten durch Mangelerfahrungen im Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren (wobei Letztere nur auf wenigen Seiten eine Rolle spielen). Der zweite Teil nimmt die titelgebende vie à crédit in den Blick und untersucht zwei Formen des Kredits: Konsumkredite der maisons de vente à crédit, vor allem am Beispiel der Grands Magasins Dufayel (Kapitel 4–5), und das städtische Pfandhaus, den Mont-de-Piété (Kapitel 6). Ausgehend von Arjun Appadurais Konzept des »social life of things«3 betrachtet Kapitel 7 alternative Praktiken des Erwerbs (Diebstahl/Second Hand) sowie Praktiken, die mit dem (drohenden) Verlust von Gegenständen in Verbindung stehen (Beschlagnahmung/Reparatur).
Die Stärke der Arbeit liegt in den Ausführungen zu neuen Kreditformen. Hier kann Albert die gestiegene Bedeutung von Geld für neue Formen des Konsums im Alltag nachweisen und mit konkreten Institutionen und Praktiken in Verbindung setzen. Damit leistet sie einen auch über den französischen Fall hinaus wertvollen Beitrag zur Konsumgeschichte, etwa zur Konkretisierung von Thomas Welskopps Konzept des »modernen Konsums«4. Zudem liefern ihre Lokalstudien nicht nur wertvolles Datenmaterial, sondern versuchen auch die schwierige Annäherung an die Alltagsperspektive der unteren sozialen Schichten jenseits der (oft bürgerlich dominierten) Diskurse. Die Quellen, die sie aus einer Vielzahl öffentlicher und privater Archive zusammengetragen hat, ermöglichen ihr ein plastisches Bild der Konsumformen, nicht zuletzt, weil Albert auch die Grenzen ihrer Aussagekraft offenlegt.
Zugleich hat die Studie jedoch auch einige Probleme. Der Versuch der Kapitel 1 und 2, über die Gegenstände auch die Gründe der Anschaffung zu erschließen, überzeugt nicht vollends. Denn da die Gegenstände darüber von sich aus keine Auskunft erteilen, greift Albert zur Deutung auf einen theoretischen Rahmen aus der Trias Thorstein Veblen, Maurice Halbwachs und Pierre Bourdieu zurück (S. 73). Die daraus abgeleitete klassische Deutung des populären Konsums als Adaption bürgerlichen Konsums und Versuche der Distinktion erscheint zumindest einseitig und ist von der Forschung der letzten Jahre zunehmend in Frage gestellt worden5. Vor allem der Rückgriff auf Halbwachs ist problematisch, da sie seine Arbeiten gleichzeitig auch als Quelle benutzt (u. a. S. 94). Ein Rückgriff auf jüngere Ansätze der (historischen) Konsumsoziologie hätte hier einen differenzierteren Blick ermöglicht6. Die drei inhaltlichen Blöcke der Arbeit stehen zudem recht unverbunden nebeneinander. Insgesamt ergibt sich so eher der Eindruck eines großen Panoramas populären Konsums um 1900 als der einer stringenten Argumentation. Dieser Eindruck setzt sich auch in den Kapiteln selbst fort, die materialreich und detailliert die Bedingungen, Praktiken, Institutionen des Konsums und teilweise auch angelagerte Diskurse darstellen, dabei aber relativ deskriptiv bleiben und sich zur bestehenden Literatur sehr defensiv positionieren. Die Entwicklung eigener Thesen und ein kritischerer Abgleich mit der bestehenden Forschung wären wünschenswert gewesen. Jenseits der Kapitel zu Kreditformen, die entlang der Geschichte der Institutionen erzählt werden, vermisst man überdies die diachrone Perspektive: Gerade im ersten Teil fehlt die Betrachtung von Wandel weitgehend, da die Inventarlisten nur für ein Jahr ausgewertet wurden. Die 1910er und vor allem die 1920er Jahre spielen in der Arbeit kaum eine Rolle, sodass Alberts finales Urteil, dass die Weltwirtschaftskrise den populären Konsumformen der Belle Époque ein Ende gesetzt habe (S. 340–341), aus der Argumentation heraus nicht nachvollzogen werden kann.
Damit ergibt sich in der Summe ein inkonsistentes Bild. Zur Entwicklung der Kreditpraktiken in Paris vermag das Buch zu überzeugen. Hier kann Albert neue Erkenntnisse herausarbeiten und größere Thesen der Forschung um eine empirische Ebene erweitern. Der angestrebte größere Blick auf populären Konsum in der Belle Époque gelingt dagegen nur zum Teil. Auch jenseits von Spezialfragen der vie à crédit liefert die Studie aber auf jeden Fall reiches Quellenmaterial, das als Ausgangspunkt für weitere Forschung wertvoll sein wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sebastian Petznick, Rezension von/compte rendu de: Anaïs Albert, La vie à crédit. La consommation des classes populaires à Paris (années 1880–1920), Paris (Éditions de la Sorbonne) 2021, 388 p. (Histoire de la France aux XIXe et XXe siècles, 88), ISBN 979-1-03-510649-2, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2022/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89226