Politik, Gesellschaft und Kultur der Karibik sind in Geschichte und Gegenwart von interimperialen Konkurrenzen und Einflussnahmen ebenso geprägt wie ihre multiethnische Bevölkerung von indigenen, afrikanischen, europäischen und kreolischen Elementen. Über Konstruktionen der race nähert sich dieser Sammelband der Region mit einer für Selbst- und Fremdbeschreibungsprozesse konstitutiven Kategorie. Hervorgegangen aus einer Tagung 2017 in der Casa de Velázquez, dem französischen Auslandsforschungsinstitut für Geisteswissenschaften und Kunst in Madrid, verfolgt der Band eine breite zeitliche und interdisziplinäre Perspektive, die zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart von der Philosophie und Anthropologie über die Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte bis zur Literatur- und Politikwissenschaft reicht. Dabei liegt ein klarer Schwerpunkt der zehn Fallstudien auf dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert. Die Karibik als fabrique de la race vermisst der Band auf gleich doppelte Weise: In ihrem Vorwort ordnet die Soziologin und Kulturwissenschaftlerin Audrey Célestine die Beiträge nach »Materialisierungen«, »Aneignungen« und »Vermeidungen« ethnisch-rass(ist)ischer Interpretamente. Das in den Literatur- und Geschichtswissenschaften beheimatete Herausgeberteam fragt in der anschließenden Einleitung seinerseits nach den Feldern rassenbezogener Zuschreibungen sowie nach unterschiedlichen Formen der Tabuisierung. Damit bleibt der analytische Rahmen für die Beiträge jedoch ein recht lockerer, der auf weiterführende konzeptionelle Aufschlüsse verzichtet.

Methodisch nimmt der Band eine durchaus eigenständige, wenn auch nicht völlig überraschende Position ein: So grenzen sich die Herausgeber einerseits von einem »methodologischen Metropolitismus« (S. 17) ab, der gerade im Falle Frankreichs lange Zeit eine universalistische Perspektive auf vermeintliche Peripherien begünstigt hat, die die kulturelle Eigenständigkeit, materiellen Hierarchien und ethnischen Diskriminierungen in der Karibik leicht ausblendete. Zum Teil resultiert daraus der Versuch, in den Beiträgen race analog zu Klasse oder Geschlecht als Analysekategorie zurückzugewinnen. Andererseits ist die Herangehensweise des Bandes bei aller Dezentrierung insofern französisch geprägt, als er zu identitätspolitisch aufgeladenen anglo-amerikanischen Ansätzen auf Distanz geht, diese vielmehr selbst als Teil der fabrique de la race betrachtet. Dass die nordamerikanische Debatte über Mark Lilla, Éric Fassin und Gérard Noiriel auch nach Frankreich ausgestrahlt hat, bietet zwar den Aufhänger der Einleitung und unterstreicht die Aktualität von Thema und Zugriff, wird aber im Verlaufe des Bandes nicht mehr aufgegriffen. In der Operationalisierung des dezentrierenden Ansatzes gehen die Beiträge unterschiedliche Wege: Ausgreifende Synthesen stehen neben Detailstudien. Historisch-semantischen Reflexionen stehen sperrigere Analysekategorien foucaldianischer oder postmarxistischer Prägung wie »Nosopolitik« oder »abstrakter Materialismus« gegenüber. Neben race werden auch Begriffe wie Indiens oder noirs quellen- wie analysesprachlich verwendet.

Mehrere Beiträge zu den verschiedenen Feldern der racialisation im ersten Teil warten mit erhellenden Einsichten zu sozialen Langzeiteffekten auf, so Elsa Dorlins Befunde zu Sklavenmedizin und Rassenätiologie im atlantischen Sklavenhandel, die nicht primär auf die medizinische Versorgung der Versklavten zielten. Vielmehr ging es dabei um die wissensbezogene Legitimierung des Sklavereisystems durch die physiopathologische Abgrenzung von weißen Europäern und eine systematische Pathologisierung widerständigen Verhaltens der Versklavten – Kategorisierungen, die weder middle passage noch Plantagenwirtschaft infragestellten. Eindrücklich sind auch Carlo Célius’ kunsthistorische Analysen von Porträts der haitianischen Führungsfiguren Toussaint Louverture und Faustin Soulouque im Lichte europäischer Traktate zur Rassenphysiognomie. Sie zeigen, wie stark bis in die Gegenwart reproduzierte »historische« und teils vermeintlich »authentische« Abbildungen in weißen stereotypen Konstruktionen wurzeln.

Trotz einer gewissen empirischen Unausgewogenheit und starken Heterogenität zwischen den Beiträgen, erweist sich eine weitere Stärke des Bandes dort, wo die Fallstudien unerwarteten Ambivalenzen ethnischer Kategorisierungen nachgehen, die andere Deutungs- und Konfliktmuster der jeweiligen Akteure überlagerten. Am Beispiel autobiografischer Texte der karibisch-französisch-amerikanischen Autorin Maryse Condé betont Tina Harpin die Ambivalenzen zwischen Schriftstellerei und Literaturwissenschaft, zwischen identitären Selbst- und Fremdzuschreibungen, zwischen engagiertem Schreiben und literarischer Autonomieästhetik. Für das literarische Feld Kubas zeigt Amina Damerdji, wie die Unabhängigkeitsbewegung, die Kubanische Revolution 1959 sowie anschließend das Castro-Regime versuchten, ethnische Unterschiede zu negieren, diese im intersektionalen Zusammenspiel mit politischer Ideologie, Ästhetik und sexueller Orientierung in der literarischen Produktion und den politischen Reaktionen darauf nichtsdestotrotz hervortraten. Jean-Luc Bonniol nimmt in seiner transnationalen, über die Karibik hinausgehenden Synthese kolonialen Rassedenkens auch emanzipatorische Umkehrungen solcher Konstruktionen in den Blick: Die one drop rule, nach der in den Vereinigten Staaten ein einziger afrikanischer Vorfahre zur Klassifikation als »schwarz« führte, ließ und lässt sich auch aktivistisch aneignen: Ein universalistischer Antirassismus, der ethnische Kategorisierungen ablehnt, stößt hier zunehmend auf die identitätspolitische Kritik eines differenzialistischen Antirassismus, der an der Identifikation qua race affirmativ festhält.

In Weiterführung dieses Interesses an Ambivalenzen begibt sich die abschließende Skizze des Philosophen Matthieu Renault auf ein seitens der Geistes- und Kulturwissenschaften bislang weniger beachtetes und kartiertes Terrain von Rassevorstellungen. Anhand einzelner Strömungen in der Genetik, Soziobiologie und den Neurowissenschaften, großenteils in der amerikanischen Forschung, geht er einer jüngeren naturwissenschaftlichen Konjunktur des Rassedenkens nach und wirft Schlaglichter auf deren populärwissenschaftliche und gesellschaftliche Verbreitung, etwa in der genetischen Bestimmung des racial heritage. In Abgrenzung von solchen biologistisch-essenzialistischen Vorstellungen plädiert er für eine »antirassistische Philosophie der Biologie und Neurowissenschaften« (S. 220) nach dem Vorbild der Feminist und Gender Studies. Leider steht hier, gegenüber der interdisziplinären wissensgenealogischen Spurensuche, die wissen(schaft)sgeschichtliche Rekonstruktion, Kontextualisierung und Gewichtung des naturwissenschaftlichen Rassedenkens zu stark zurück, um die suggestiven Befunde differenziert einzuordnen. Von der Karibik entfernt sich dieser Schlussbeitrag zudem vollends.

In der Gesamtschau markieren einzelne erhellende Fallstudien und exemplarische Einblicke in die Paradoxien und Ambivalenzen der fabrique de la race den Mehrwert des Bandes stärker als ein neuer konzeptioneller Ansatz, ein konsequenter historischer Längsschnitt oder die breite Erschließung eines potenziell reichen Quellenkorpus. Die meisten Beiträge erweisen sich für verschiedene Disziplinen als zugänglich, stehen jedoch in keinem unmittelbaren interdisziplinären Dialog. Augenfällig sind einige Schreibfehler bei Namen, Jahreszahlen und Überschriften sowie zumindest im Rezensionsexemplar ein recht unscharfes Druckbild. Für eine überwiegend französische sowie konstruktivistische Perspektive auf ethnische Kategoriebildungen jenseits universalistischer Holismen und aktivistischer Agenden erweist sich der Band insgesamt als aufschlussreich.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Friedemann Pestel, Rezension von/compte rendu de: Marine Cellier, Amina Damerdji, Sylvain Lloret (dir.), La Fabrique de la race dans la Caraïbe de l’époque moderne à nos jours, Paris (Classiques Garnier) 2021, 258 p. (Rencontres. Série Histoire, 11), ISBN 978-2-406-11493-2, EUR 19,00., in: Francia-Recensio 2022/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89227