Das Internet in der Ukraine funktioniert noch. Trotz eines russischen Angriffskrieges, der neben der Zivilbevölkerung auf die Infrastruktur des Landes zielt, senden Menschen aus belagerten Städten Instagram-Posts, streamt sich Wolodymyr Selenskyj in die Parlamente der Welt und kommunizieren ukrainische Truppen über IP. Das ist ein mächtiger Beleg für die hoffungsvolle These, welche die Herausgeber der Reihe »Making Europe« an den Beginn des lesenswerten Buches stellen: Das 20. Jahrhundert sei nicht über seine Kriege zu begreifen, sondern über die Infrastrukturen, die jeden Krieg überwanden. Die beiden Autoren, der Technik- und Medienhistoriker Andreas Fickers und der Wirtschaftshistoriker Pascal Griset, greifen dieses Narrativ in ihrer Analyse von Kommunikationsinfrastrukturen auf. Vom staatlichen Einfluss (Kap. 1) über Telegrafennetze (Kap. 2), Radio-, Telefon- und TV als »Technodiplomatie« (Kap. 3), eine partizipative Medienlandschaft (Kap. 4), grenzüberschreitende Kommunikation bis zur Digitalgeschichte (Kap. 6 und 7) und Beschleunigung (Kap. 8) zeigen sie auf, wie Europa durch Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) geformt wurde, aber es ebenso solche Infrastrukturen formte. Wie trugen diese zum Europabild und der Entstehung »Europas« bei? Dass einerseits Wissenschaft und Unternehmergeist den Diskurs dominierten und sich andererseits kreative Milieus und neue, medial vermittelte Lebensstile herausbildeten, seien zwei Seiten derselben Medaille, wie die Autoren argumentieren. Dazu untersuchen sie die politischen, ökonomischen und kulturellen Einflüsse und Bedeutungen von IKT aus europäischer Perspektive über einen langen Zeitraum seit 1850. Kurz: Sie fragen nach der Ko-Konstruktion von IKT und Europa. Europa verstehen die Autoren dabei weder rein politisch, geografisch, religiös noch ökonomisch, sondern überzeugend pragmatisch mit einem »constructivist approach which interprets Europe as the result of ongoing discursive negotiations« (S. 5).

Meist erzählen sie keine Artefakt- und Erfindergeschichten, beispielsweise des Telefons und seiner Reise zwischen den Nationen, sondern verdichten Netzwerkbildung, Nutzungsformen, Interessen, Standardsetzungen, policies und Technikwirkungen zu historischen Großprozessen mit dezidiertem Technikbezug. Ihre Arbeitsweise, aber auch die sich daraus ergebenden Probleme möchte ich an den Kapiteln zur »Proto-Digitalisierung der Gesellschaft zwischen Wissenschaft und Geopolitik« (Kap. 6) sowie der »digitalen Konvergenz im Neoliberalismus des späten 20. Jahrhunderts« (Kap. 7) in den Blick nehmen. In Kapitel 6 betrachten die Autoren die Entwicklung von Computertechnik seit den 1950er-Jahren in verschiedenen europäischen Staaten. Ihre Untersuchung reicht von Großbritannien über Frankreich, Deutschland und Skandinavien bis nach Osteuropa. Bemerkenswert ist, dass es sich bei dem Buch um einen der ersten Beiträge handelt, der einen gesamteuropäischen Weg in das Digitale Zeitalter skizziert. Sie argumentieren, dass die Elektrotechnik/Elektronik, die Entstehung einer entsprechenden Industriestruktur und die Entwicklung von Computern eng miteinander verschränkt waren. Anfangs in wissenschaftlichen Institutionen entwickelt, verbreiteten sich digitale Computer zuerst in Universitäten, bis schließlich ein Massenmarkt entstand. Wissenschaft und Technik machen sie als die wichtigsten europäischen Abnehmer der jungen Technik aus. Wirtschaftsunternehmen untersuchen sie in der Anfangszeit der Verbreitung von Computern vor allem als Produzenten der Technik. Darüber hinaus machen sie unter anderem die Kreditwirtschaft, beispielsweise die Crédit Lyonnais, als frühe europäische Anwender aus.

Gekonnt und mit Feinsinnigkeit verbinden sie nationale Pfade zu einer überzeugenden Analyse europäischer Digitalisierung. Über die Theorie der »Proto-Digitalisierung«, welche die Überschrift von Kapitel 6 prägt, hätte man gerne mehr erfahren. Auch die Miteinbeziehung osteuropäischer Staaten gibt dem Narrativ europäischer Computerentwicklung eine besondere Tiefe. Eine Herausforderung für ein jedes europäisches Überblickswerk ist es, auch die Forschungskontroversen und neusten Erkenntnisse zahlreicher Länder mit jeweils eigenen Sprachen gerecht zu werden. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung in Osteuropa, wo sich die Autoren auf die Literatur verlassen müssen, dass Polen und die Tschechoslowakei ab den späten 1960er-Jahren »exclusively« (S. 274) von sowjetischen Exporten abhängig, oder dass sowjetische Computerproduktionskapazitäten gering gewesen seien sollen1. Ebenso war die Rolle des Computerentwicklers Konrad Zuses und sein Verhältnis zu Staat und Regime ambivalenter: Statt der Erzählung des »isolated researcher« (S. 257, 246) akzentuiert die neuere Forschung Zuses Nähe zum Regime. Seine Entwicklung weckte sehr wohl das Interesse der Luftwaffe, und er diente sich dem Nationalsozialismus mit rassenideologischen und drohnentechnischen Berechnungen an2. Das Regime revanchierte sich im Gegenzug in den ressourcenarmen Endzeiten des Krieges damit, ihn, den Digitalcomputer Z 4 und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter quer durch Deutschland ins Allgäu zu evakuieren – gemeinsam mit Wernher von Braun. Es überzeugt, wie sie politikwissenschaftliche oder raumbezogene Konzepte von Europa technologisch problematisieren; unausweichlich greifen sie dabei aber auf Spillover-Effekte und Mehrebenen-Konzepte zurück – Grundlagen der politischen Theorie des »Europäischen Systems«. Ihrem Anliegen nach einem nuancierteren Diskurs europäischer Digitalisierung tut all dies allerdings keinen Abbruch.

Insgesamt fügt sich der Band exzellent in die übergeordnete Reihe »Making Europe« ein. Daraus bekannte Tropen wie eigensinnige Endnutzerinnen und Endnutzer, der Technikeinsatz in Krieg und Ökonomie, die Rollen von Standards oder Experten kehren wieder und werden von den beiden Autoren individuell für neue Perspektiven auf die IKT und Europa gewendet. Die Autoren legen mit »Communicating Europe« ein wichtiges Referenzwerk für die Erforschung Europas und seiner IKT vor, das bereits vielfach und gewinnbringend in Lehrveranstaltungen genutzt wurde. Das Buch inspiriert durch seinen integrativen Umgang mit Themen, Akteuren und Kulturen und verknüpft diese mit den großen Fragen der Zeit. Es ist damit ein wunderbares Beispiel neuerer Technikgeschichte, die schon lange über Artefaktgeschichten hinausgeht.

1 Mirosław Sikora, Cooperating with Moscow, Stealing in California: Poland’s Legal and Illicit Acquisition of Microelectronics Knowhow from 1960 to 1990, in: Christopher Leslie und Martin Schmitt (Hg.), History of Computing in Eastern Europe (IFIP Advances in Information and Communication Technology), Heidelberg/New York 2019, S. 165–195; Marina Smolevitskaya, The Engineering Heritage of Bashir Rameev at the Polytechnic Museum: Honoring the 100th Anniversary of His Birth, in: ibid., S. 317–341.
2 Herbert E. Bruderer, Konrad Zuse und die Schweiz: wer hat den Computer erfunden? München 2012, S. 7; HNF, Zu Besuch bei Konrad Zuse, in: HNF-Blog. Neues von gestern aus der Computergeschichte, 2020, https://blog.hnf.de/zu-besuch-bei-konrad-zuse/ [15.4.2022]; Ulf Hashagen, Von Berlin ins Allgäu: Der Erfinderunternehmer Konrad Zuse 1945–1948, in: Klaus-Peter Fähnrich und Bogdan Franczyk (Hg.), Informatik 2010. Service Science – Neue Perspektiven für die Informatik, Bd. 2, Bonn 2010, S. 468–469; Herbert Bruderer, Milestones in Analog and Digital Computing, Cham 2020, S. 1073–1074; Wilhelm Füßl (Hg.), 100 Jahre Konrad Zuse: Einblicke in den Nachlass, München 2010.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Martin Schmitt, Rezension von/compte rendu de: Andreas Fickers, Pascal Griset, Communicating Europe. Technologies, Information, Events, Basingstoke, Hampshire (Palgrave Macmillan) 2019, 485 p. (Making Europe: Technology and Transformations, 1850–2000, 5), ISBN 978-0-230-30803-9, EUR 72,79., in: Francia-Recensio 2022/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89230