Das Verfahren mutet wie Bleigießen an – und doch galt der Rorschach-Test über Jahrzehnte in der Psychoanalyse sowie in der internationalen Ethnologie als geeignete Methode, das Seelenleben zu erkunden – zunächst von psychisch erkrankten Menschen und dann von kolonisierten Völkern, deren Verhaltensweisen europäischen Forschenden rätselhaft erschienen. Hubertus Büschel untersucht in seiner Studie, wie der Rorschach-Test von Ethnologen, Psychologen, Ethnopsychologen und Anthropologen rund um die Welt von der Elfenbeinküste über Marokko bis nach Papua-Neuguinea und Nordamerika eingesetzt wurde, um Wahrnehmungen und Erfahrungswelten außereuropäischer Individuen zu vermessen und zu deuten. Er liefert Fallbeispiele, die im kolonialen Kontext einen deutlichen Eindruck über die wissenschaftsgestützte Blindheit mancher westlich geprägter Forschender gegenüber Menschen anderer, unterworfener Kulturen liefern. Das ist um so verdienstvoller, als es zur internationalen Karriere des Rorschach-Tests, der etwa auch in China verwendet wird, keine Überblicksliteratur gibt.

Der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Hermann Rorschach (1884–1922) hatte kurz vor seinem Tod zehn Tafeln mit symmetrischen Tintenkleksen, sog. Faltbildern, entworfen. Zu sehen waren »Zufallsformen«, die der Fantasie der Probanden im Test Nahrung für allerlei Spekulationen zu geben versprachen. Handelte es sich um Fledermäuse, um Drachen oder um reine Fantasiegebilde? Die Assoziationen und Gefühlsäußerungen beim Betrachten der Tafeln sollten die psychische Disposition der Patienten erhellen. Es ging darum, die Ich-Wahrnehmung durch Projektionen sicht- und lesbar zu machen: als »Röntgenbilder der Seele«, wie die Anarchistin und Psychoanalytikerin Elisabeth Charlotte »Goldy« Parin-Matthèy sie nannte. Bezeichnend für den Anspruch des vermeintlich streng wissenschaftlich verfahrenden Tests war seine gelegentlich bis heute unterstellte Fähigkeit, »kulturelle Unterschiede zwischen Menschen bis hinein in ihre tiefste Psyche« zu identifizieren. Und es ging um den Nachweis, dass man mit Hilfe psychologischer Verfahren fundamentale ethnologische Erkenntnisse gewinnen könne. So reiste der streng formalisierte Rorschach-Test mit eifrigen Forschenden tatsächlich um die Welt. Es handelte sich aber nicht nur darum, »fremde Kulturen« durch die Tests besser zu verstehen, sondern sie zu klassifizieren und den Akkulturationsprozess mitsamt seinen Folgen zu bewerten. Der Rorschach-Test wurde unter der Hand zu einem zivilisatorischen Abstandsmesser, der sich für die Legitimation kolonialer Politik bestens verwenden ließ.

Die kolonial-politische Dimension der entsprechenden Tests zeigt sich immer wieder in Urteilen über diese oder jene vermeintlich »rassischen« Merkmale, wie Büschel herausarbeitet. So etwa im Fall des Schweizer Psychiaters und Psychoanalytikers Emil Oberholzer, der Ende der Dreißigerjahre die Ergebnisse des Rorschach-Tests in bestimmten Regionen der Schweiz mit entsprechenden Erhebungen auf der Insel Alor verglich, die von Cora Du Bois in Niederländisch-Indonesien durchgeführt worden waren. Er versuchte sich an einem »Blindtest« und konstatierte »pathologische Züge« im »Grundcharakter« der Aloresen: Sie seien »Kinder des Augenblicks mit einem Hausfrauenfimmel«. Mag ein solches Urteil über die »primitive Mentalität« noch erwartbar und zeittypisch erscheinen, so aufregend liest sich das, was Büschel über den Einsatz des Rorschach-Tests in den Fünfzigerjahren, in der Zeit der einsetzenden anti-kolonialen Bewegung schreibt. Denn zwischen kolonialer Herrschaft und Erkenntnisinteressen öffnete sich ein tiefer Spalt, der nach Jahrzehnten eine komplette Revision im Umgang mit außereuropäischen Kulturen erforderte.

Nicht allein Pierre Bourdieu, sondern ebenso Michel Foucault und Frantz Fanon versuchten mehr oder weniger hartnäckig und doch vergeblich, anhand des Rorschach-Tests, Erkenntnisse über »fremde Menschen« zu gewinnen. Gleiches gilt für Margaret Meads Forschungen mit dem Rorschach-Test in Papua-Neuguinea.

Der einflussreiche Psychiater John Colin Carothers, Leiter des Mathari Krankenhauses, im Jahr 1910 von der englischen Kolonialmacht in Nairobi gegründet und bis heute die einzige öffentliche Klinik für Psychiatrie in Kenia, schrieb mit Blick auf die aufständische Mau-Mau Bewegung, dass man keinerlei Vertrauen in afrikanische Menschen setzen könne. Sie seien, »pathologisch faul« und »verschlagen«. Das sei auch das Ergebnis entsprechender Erhebungen mithilfe des Rorschach-Tests, der »zum Besteck eurozentrischer Methoden kolonialer Anthropologie« gehörte. Auch der französische Psychiater und Psychoanalytiker Daniel Lagache plädierte Ende der Vierzigerjahre für die Verwendung projektiver Verfahren wie des Rorschach-Tests in der klinischen Arbeit und Forschung. Der junge Foucault besuchte Lagaches Vorlesungen und erhielt die Erlaubnis, den autorisierten Rorschach-Test zu beziehen und führte sogleich mit Kommilitonen zahlreiche Tests durch. Bei einem Besuch in der Schweiz ließ er sich überzeugen, dass der Test der Psychoanalyse nicht allein ein striktes Verfahren, sondern Wissenschaftlichkeit mit Hilfe von klaren Beobachtungskategorien biete. Als Foucault Ende der Sechzigerjahre in Tunis lehrte, versuchte er seinem Publikum den Rorschach-Test als Instrument zur Evaluierung ihrer postkolonialen Situation nahezubringen. Das gelang aber nur unvollkommen und Foucault kam, zurück in Paris, schnell davon ab, Hohepriester solcher Tests sein zu wollen.

Ebenso erging es Frantz Fanon, dem berühmten Psychiater und Vordenker der Entkolonialisierung. Er fragte sich nach einigen wenig erfolgversprechenden Versuchen, wie man überhaupt »einen Kolonisierten korrekt heilen könne«. Mit den Rorschach-Tests jedenfalls war das nicht möglich. Auch bei der Analyse vermeintlicher oder tatsächlicher »traditioneller Völker«, wie sie Goldy Parin-Matthèy mithilfe von einhundert Rorschach-Tests an Einwohnern in abgelegenen Gegenden von Mali vornahm, kam nichts zu Tage, was man nicht schon gewusst hätte.

Hubertus Büschel hat mit seiner Studie vor allem eins gut herausgearbeitet: den bei aller Reflexion eifrig-blinden Szientismus, dem Ethnologen wie Psychiater über ein halbes Jahrhundert mit dem Rorschach-Test huldigten. Und damit ist gerade im postkolonialen zeitgenössischen Kontext für die historische Selbstreflexion einiges gewonnen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Jeismann, Rezension von/compte rendu de: Hubertus Büschel, Der Rorschach-Test reist um die Welt. Globalgeschichten aus der Ethnopsychoanalyse, Wien (Turia und Kant) 2021, 158 S., ISBN 978-3-98514-008-4, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2022/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.2.89326