Bücher über Notre-Dame de Paris haben seit der Brandkatastrophe von April 2019 Konjunktur. Mit Claude Gauvard und Boris Bove haben zwei ausgewiesene Experten der Pariser Stadt- und Kirchengeschichte ein hochkarätiges Autorenteam versammelt, das die Geschichte der Hauptstadtkathedrale in 14 Kapiteln von ihren Anfängen im 4. Jahrhundert bis in die Gegenwart nachzeichnet. Ein chronologisches Anfangskapitel, in dem die Mediävistin Hélène Noizet die spätantik-frühmittelalterlichen Fundamente der Kathedralgruppe im Osten der Pariser Île de la Cité beschreibt, und vier neuzeitliche Schlusskapitel, die von der Revolution bis zu den Folgen des Brandes 2019 reichen, umrahmen eine breite, epochen- und fächerübergreifende Darstellung der Baugeschichte der Kathedrale und ihrer Funktionen in Stadt und Reich.

Bereits die Einleitung von Claude Gauvard und Boris Bove zeigt die großen Entwicklungslinien der über 1700-jährigen Geschichte des Pariser Bischofssitzes auf. Der im heutigen Bildgedächtnis so dominierende gotische Bau des Bischofs Maurice de Sully aus den Jahren nach 1160 hatte eine 850-jährige »Vorgeschichte«. Um zu erklären, warum diese lange Phase der spätantik-frühmittelalterlichen Gruppe und des romanischen Kathedralbaus aus dem frühen 12. Jahrhundert deutlich weniger Aufmerksamkeit bei Zeitgenossen und späteren Historikern nach sich zog, heben C. Gauvard und B. Bove auf die Ebene von Stadt und Königtum ab. Der gotische Neubau fiel just in die Phase, in der sich Paris anschickte, französische Hauptstadt und permanente Residenz der kapetingischen Herrscher zu werden. Nachdem bereits in der Karolingerzeit das Vermögen und die Rechte zwischen Bischof und Kathedralkapitel aufgeteilt worden waren, wird im 12. Jahrhundert das Königtum zum dritten Hauptakteur. Notre-Dame wird als Hauptstadtkathedrale zu jener Ikone, deren emblematische Bedeutung für Paris und die ganze französische Nation Guillaume Cuchet im abschließenden Kapitel noch einmal hervorhebt.

Hélène Noizet widmet nur wenige Bemerkungen den keltischen und römischen Wurzeln der Seine-Stadt, auch für die nicht unwichtige Frage der Christianisierung bleibt kaum Raum. Etwas ausführlicher geht sie auf die karolingischen Umbauten und den romanischen Neubau ein. Die präzisen Angaben zur Topografie und die ausgezeichneten Karten weisen sie als Spezialistin für die rechtlichen und örtlichen Verhältnisse auf der Île de la Cité aus. Angesichts des ansonsten auf Interdisziplinarität angelegten Bandes und des oben konstatierten Forschungsdefizits zur Frühzeit erscheint es gleichwohl bedauerlich, dass hier auf einen archäologischen Aufsatz verzichtet wurde, der die herausragenden Grabungsfunde unter dem heutigen Vorplatz und im Umfeld der Kathedrale gewürdigt hätte. Der folgende Beitrag von Maxime L’Héritier umspannt die Bauzeit der gotischen Kathedrale zwischen 1160 und dem späten 13. Jahrhundert. Mit spektakulären 3D-Ansichten zu den einzelnen Bauphasen und gut informierten Passagen über Baufinanzierung, Materialien und beteiligte Baumeister und Gewerke führt er auf sehr anschauliche Weise in die Baugeschichte der Ikone Notre-Dame ein. Dem Kunsthistoriker Daniel Russo bleibt es vorbehalten, den architektonischen Entwurf und die Ikonografie dieses Hauptwerks der französischen Gotik zu thematisieren. Dabei interessieren ihn sowohl die reichen Skulpturenprogramme der Portale und der gesamten Westfassade als auch die Ikonografie der Fenster und Rosetten. Aus diesen komplexen theologischen Bildwelten leitet er drei Autoritätsdiskurse ab: denjenigen der Kirche und des Bischofs, der Stadt und des Königs. Im Vergleich zur aktuellen Monografie des Pariser Kunsthistorikers Dany Sandron1, der die architektonische Neuartigkeit und politische Aussagekraft der Galerie der Könige besonders betont, fällt die weitgehende Abwesenheit dieses Themas in dem vorliegenden Beitrag ins Auge.

Der Klerus der Pariser Kirche steht im Mittelpunkt des Beitrags von Isabelle Brian und Catherine Vincent, mit dem der zentrale Abschnitt des Buchs zu den Funktionen der Kathedrale eröffnet wird. Jedes der folgenden systematischen Kapitel hat die große chronologische Spanne vom 12. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution zu überbrücken und eröffnet dabei zahlreiche neue Perspektiven, die sich nur im Licht der longue durée bieten. I. Brian und C. Vincent wählen ihre Beispiele, mit denen sie die leitenden Strukturen der Konflikte zwischen Bischof und Kapitel von Notre-Dame, des liturgischen Geschehens in der Kathedrale und der klerikalen Netzwerke in Stadt und Diözese illustrieren, hauptsächlich aus der Frühneuzeit. Ihnen gelingt es etwa, Bezüge zwischen den Reformstatuten des Bischofs Eudes de Sully aus dem frühen 13. Jahrhundert und den Reformprogrammen des 15. und 16. Jahrhunderts sichtbar zu machen.

Mit der bedeutenden Kathedralschule von Notre-Dame, ihren herausragenden Lehrern des 12. Jahrhunderts und ihrer führenden Rolle bei der Gründung der Pariser Universität befasst sich Thierry Kouamé. Auch wenn sich der wissenschaftliche Betrieb von der Île de la Cité auf das linke Seine-Ufer verlagerte, macht der Beitrag deutlich, wie viele renommierte Gelehrte auch in späteren Zeiten unter Leitung des Kantors von Notre-Dame im Kathedralkapitel tätig waren. Mit Julie Claustre nimmt sich eine weitere ausgewiesene Spezialistin für die Geschichte der Kathedrale und ihrer Dokumente der wichtigen Frage nach den Gerichtsbarkeiten von Notre-Dame an. Bischof und Kapitel gehörten zu den großen Grundbesitzern des städtischen Territoriums. Ihre Rechtsbereiche waren innerhalb der Kathedrale, auf der Île de la Cité und im gesamten Stadtraum strikt getrennt. Darüber hinaus standen dem Bischof, seinem Offizial und den drei Archidiakonen die geistliche Gerichtsbarkeit in Stadt und Diözese zu. Mit der für Paris kaum zu überschätzenden Wirkungsgeschichte des Hôtel-Dieu (Christine Jéhanno), dem Unterhalt der Kathedrale, der Organisation der Kirchenfabrik und den barocken Umbauten vor allem im Chor (Étienne Hamon) sowie der Wahrnehmung und Nutzung von Notre-Dame durch die Pariser Bevölkerung und Besucher (Boris Bove, Laurent Croq) werden weitere zentrale Themen behandelt, die gerade in der langen Perspektive bis zum 18. Jahrhundert immer wieder neue Erkenntnisse bereithalten. So lassen sich der distinktive Zugriff auf individuelle, familiäre und kollektive Frömmigkeitspraktiken (S. 276–290) oder die persönlichen Verflechtungen zwischen Kathedralkapitel und Pariser Königshof (Claude Gauvard, Jean-Marie Le Gall) in aktuelle Forschungsdiskussionen einordnen. Vom »Staatstheater« und »dynastischen Patriotismus« der Bourbonen (J.-M. Le Gall) führt eine direkte Linie zu den abschließenden Kapiteln der Geschichte von Notre-Dame in der Moderne. Hervé Leuwers macht dabei deutlich, wie die königliche Ikonografie der Kathedrale während der Revolution skandalisiert und in weiten Teilen zerstört wurde. Der parvis von Notre-Dame diente in dieser Zeit als Hinrichtungsstätte, während das Innere in der Napoleonischen Ära immer wieder für die religiösen Zeremonien des neuen Reichs herangezogen wurde. Ségolène Le Men widmet sich der für die moderne Ansicht der Kathedrale wegweisenden Restaurierungsarbeiten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die – wie in vielen anderen französischen Monumenten – mit dem Namen Eugène Viollet-le-Duc verknüpft sind, an deren Ausführung jedoch sehr viel mehr Architekten und Künstler beteiligt waren.

Die baulichen Transformationen im ehemaligen Cloître Notre-Dame im Osten der Île de la Cité (Florence Bourillon) und die Wirkungsgeschichte der verheerenden Brandkatastrophe vom April 2019 (Guillaume Cuchet) schließen den Band ab, der sich durchgängig durch gute Lesbarkeit, konzise Information auf dem jeweils neuesten Forschungsstand und eine reiche, gut recherchierte Bildauswahl in herausragender Qualität auszeichnet. Dies gilt auch für die zahlreichen topografischen Rekonstruktionskarten, in deren Erstellung die Erfahrungen des Pariser Projektes »ALPAGE« einflossen. Ein sorgfältig erstellter Anhang mit Glossar, Zeittafel, Bibliografie und Namenregister rundet diese verdienstvolle kollektive Monografie ab.

1 Dany Sandron, Notre-Dame de Paris. Histoire et archéologie d’une cathédrale (XIIe–XIVe siècle), Paris 2021 (Esprit des lieux).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jörg Oberste, Rezension von/compte rendu de: Boris Bove, Claude Gauvard (dir.), Notre-Dame de Paris. Une cathédrale dans la ville. Des origines à nos jours, Paris (Belin) 2022, 487 p., ISBN 978-2-410-02455-5, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90443