Die umfangreiche und auf breiter Kenntnis der Literatur und der Quellen beruhende Dissertation von Stephan Bruhn beschäftigt sich in Form einer Diskursanalyse mit der Bildung einer Reformgruppe, die ein gemeinsamer Wertekanon verbindet, im spätangelsächsischen England (ca. 850–1050). Zentraler Gegenstand der Studie ist ein Korpus von Viten jener Zeit, in denen diese reformerischen Ideale und Werte diskutiert und narrativ zum Ausdruck gebracht wurden. Im Ergebnis möchte die Studie herausarbeiten »what constitutes a reformer in late Anglo-Saxon Latin prose vitae« (S. 16).
Das Werk gliedert sich in vier große Abschnitte. Zunächst wird auf die methodischen und theoretischen Grundlagen eingegangen, darunter auch die aktuelle Diskussion zum Reformbegriff und die Behandlung des hagiografischen Quellenkorpus.
Die Abschnitte II und III bilden den größten und zentralen Teil der Arbeit. Sie stellen jeweils Fallstudien für zwei unterschiedliche Erneuerungsbewegungen dar, die beide anhand ihres eigenen Textkorpus untersucht werden. So widmet sich ein Teil der Zeit Alfreds des Großen, während der andere sich mit den »benediktinischen Reformen« des 10./11. Jahrhunderts beschäftigt. Zentraler Bestandteil der parallel aufgebauten Kapitel ist dabei die diskursive Analyse von Werten oder Tugenden, welche die Gruppe der Reformer zu jener Zeit miteinander verbunden habe.
Der vierte Abschnitt versteht sich weniger als eine Rekapitulation, denn als eine Öffnung breiterer Perspektiven für die mittelalterliche Forschung in Form von sechs programmatischen Essays, die das Ergebnis der durchgeführten Studie bilden. Jedem dieser vier Abschnitte sind zudem kompakte und praktische englische Zusammenfassungen angefügt, die nicht nur sehr hilfreich sind, um dem roten Faden des Buches zu folgen, sondern auch dem internationalen Leser den Zugang erleichtern.
Neuartig am methodischen Ansatz der Arbeit ist zweifellos der zentrale Fokus auf Viten als Gegenstand einer gruppenbildenden Diskursanalyse. Demgegenüber ist die Untersuchung beispielsweise eines Briefkorpus eine konservativere Methode, wie dies jüngst von Ariane Lorke unternommen wurde1. Die Auswahl hagiografischer Texte als Untersuchungsgegenstand begründet sich aus ihrer »sozial-diskursive[n] Funktion« (S. 43) und ihrem Wert als Selbstzeugnis der Reformgruppe. Innerhalb der Viten wird nun ein Katalog von elf moralischen Werten untersucht, der zu den Kernanliegen der Reformer gehörte. Dabei handelt es sich um Gehorsam, Gerechtigkeit, Bußfertigkeit, Frömmigkeit, Keuschheit, Soziabilität, Demut, Freigiebigkeit, Gnade, Agonalität und Produktivität. Obwohl es ein Hauptanliegen der Arbeit ist, »über eine Untersuchung des zeitgenössischen Redens über Werte und Normen die diskursive Stiftung, Stabilisierung und Aufhebung sozialer Beziehungen zu erschließen« (S. 66), handelt es sich bei diesen Werten allerdings bewusst nicht um zeitgenössische, sondern moderne Begriffe, da diese Einteilung »am modernen Erkenntnisinteresse, nicht am zeitgenössischen Vorstellungshorizont orientiert« sei (S. 67).
Die erste Fallstudie, die sich mit den Reformen König Alfreds befasst, basiert nur auf der Lebensbeschreibung des Königs, Assers »De rebus gestis Ælfredi«. Die Quelle erfährt eine Neubewertung, wonach sie nicht nur als Fürstenspiegel, sondern gleichsam als Teil des Reformdiskurses der Zeit zu verstehen sei. Aus der Analyse des Textes mit Blick auf den Wertekatalog der Reformer geht dabei unter anderem hervor, dass die verschiedenen Werte eine Reformgruppe am Hof Alfreds mit dem König als Mittelpunkt, aber nicht als alleinigem Akteur des Erneuerungsprozesses konstituieren. Das Kapitel ist in seiner Begrenzung auf nur eine Vita dabei aber »deliberately not limited to the study’s main focus on the discursive formation of reform groups but instead provides a catalogue of the values and norms negotiated [there]« (S. 290).
Dieses Vorgehen mag gut begründet sein, bietet jedoch durch die bewusste Wahl moderner Begriffe eine schwächere Grundlage für eine Argumentation zugunsten einer Gruppenbildung und -identität der Reformer. Darüber hinaus ließe sich diskutieren, ob viele dieser Werte denn spezifisch »reformerisch« gedacht oder nicht viel breiter als christlich verstanden werden können. Sicherlich haben Hagiografen ihre Agenda im Sinne der Erneuerung in ihre Werke einfließen lassen, werden sie aber nicht immer als reine Programmschriften für Reform verstanden haben.
Im Rahmen der zweiten Fallstudie setzt sich der Autor nun zunächst mit den Begrifflichkeiten der sogenannten »benediktinischen Reform« des 10./11. Jahrhunderts auseinander. Während er einerseits auf den aktuellen Diskurs zum Reformbegriff eingeht, kritisiert er selbst auch schlüssig das »benediktinische« Label, da die Bemühungen und Zielsetzungen der zwar meist klösterlichen Reformer weit über die Klostermauern hinaus gingen und nach einer »grundlegenden und standesübergreifenden Werteordnung« (S. 302) strebten.
Auch in der Auseinandersetzung mit den insgesamt sieben für diesen Teil herangezogenen Viten kommt es jeweils zu einer sorgsamen Einordnung und ebenso zu wertvollen Ergänzungen zum aktuellen Forschungsstand. Der als Analyseinstrument verwendete Wertekatalog wird dabei »als Weiterführung der für die alfredianische Initiative konstatierten Befunde« verstanden (S. 419). Die Untersuchung der reformerischen Tugenden bestätigt den Eindruck einer über die monastischen Kreise hinausreichenden Erneuerungsabsicht und deutet darauf hin, dass das in den Viten vermittelte Ideal nicht das der vita contemplativa, sondern der vita mixta darstellt – wie bereits aus Assers Biografie Alfreds geschlossen wurde. Dementsprechend widmet sich dieses Kapitel auch noch weiteren Personen außerhalb des monastischen Kontextes, die im Diskurs der Viten ebenfalls zur Gruppe der Reformer gerechnet werden, wie beispielsweise Säkularkleriker, religiöse Frauen oder laikale Herren.
Gestützt auf die englischen Zusammenfassungen, die sich an jedes Kapitel anschließen, kann das Buch schließlich den vierten Abschnitt für sechs über das Thema hinausweisende und gewinnbringende Essays nutzen. Sie beschäftigen sich mit Fragen der vita mixta als eines kontinuierlichen mittelalterlichen Reformideals (IV.1.), den methodischen Folgen für die Wertegeschichte (IV.2.), dem Verhältnis zwischen der laikalen und klerikalen Sphäre (IV.3.), den Viten als multifunktionalen Quellen (IV.4.), der Diskussion um die Praktikabilität des Reformbegriffs (IV.5.) und der Infragestellung des wissenschaftlichen Nutzens, von Zentrum und Peripherie zu sprechen (IV.6.).
Insgesamt gelingt es Stephan Bruhn mit dieser Studie, einen methodisch anspruchsvollen Beitrag zur spätangelsächsischen Vitenkultur und den damit verbundenen Reformkreisen zu leisten. Insbesondere sein Plädoyer, die Intentionen der Reformer als über die monastischen Grenzen hinaus angelegte Gedanken herauszustellen, vermag zu überzeugen. Damit gehen eine sorgsame Bewertung der hagiografischen Quellen sowie wertvolle Anstöße und Ausblicke für die weitere Forschung einher.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Samuel Schröder, Rezension von/compte rendu de: Stephan Bruhn, Reformer als Wertegemeinschaften. Zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850–1050), Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2022, 608 S. (Mittelalter-Forschungen, 68), ISBN 978-3-7995-4389-7, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90445