Am 17. Dezember 2020 hat die UNESCO das »Bauhüttenwesen« in das Register guter Praxisbeispiele »Immaterielles Kulturerbe« eingetragen1. Deutschland, Frankreich, Norwegen, Österreich und die Schweiz hatten im März 2019 die Aufnahme in das UNESCO-Register beantragt. An der Nominierung sind 18 Bauhütten aus fünf Ländern beteiligt: Aachen, Bamberg, Basel, Dresden, Freiburg, Köln, Linz, Lübeck, Mainz, Passau, Regensburg, Schwäbisch Gmünd, Soest, Straßburg, Trondheim, Ulm, Wien und Xanten. Sie stehen für Weitergabe, Dokumentation, Bewahrung und Förderung von Handwerkstechniken und -wissen vom Mittelalter bis heute. Im 13./14. Jahrhundert waren sie Zentren der Innovation, und bis heute sind sie Wissensspeicher – nicht zuletzt unverzichtbar für Unterhalt und Pflege der großen gotischen Kirchenbauten und anderer Monumente.

Unterstützend gab es eine Tagung vom 23. bis 25. Oktober 2019 in Paris, unter dem Titel »Le chantier cathédral en Europe« (Dombauhütten in Europa), deren Vorträge in diesem Band vorgelegt werden. Er vereinigt auf 428 Seiten 33 Beiträge von 40 Autoren aus Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz – von Dombaumeisterinnen und Dombaumeistern, Architektinnen und Architekten, Denkmalpflegerinnen und Denkmalpflegern, Archivarinnen und Archivaren sowie Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern. Die Herausgeberin und der Herausgeber Isabelle Chave und Dany Sandron präsentieren einleitend die Initiative, die Motivation und die Argumentationslinien dieses Antrags. Die Beiträge sind in vier chronologisch aufeinander aufbauende Sektionen gegliedert. Dabei kommen nicht nur die für das Welterbe-Register vorgeschlagenen Bauhütten zu Wort, sondern das Thema wird im europäischen Rahmen breit beleuchtet – in Kurzbeiträgen mit relativ wenig Abbildungen und teilweise recht sparsamen Quellennachweisen. Im Gegensatz zum UNESCO-Antrag waren in dieser Veranstaltung fast ausschließlich Dombauhütten im engeren Sinne einbezogen, auch solche, die nicht am Antrag beteiligt sind. Es fehlten die nicht an (ehemaligen) Kathedralen tätigen Bauhütten in Aachen, Freiburg, Linz, Schwäbisch Gmünd, Soest, Trondheim, Ulm und Xanten.

Die erste Sektion des Bands ist der »Verwaltung der Bauhütten in der Geschichte« gewidmet. Drei übergreifende Beiträge zu Mittelalter, Früher Neuzeit und dem 19./20. Jahrhundert stellen die organisatorische Einbindung der Dombauhütten und deren Grundlagen dar (Dany Sandron, Mathieu Lours, Eva-Maria Seng und Marco Silvestri). Es folgen sieben Beiträge zur Geschichte der Dombauhütten in Metz, Straßburg, Wien, Köln, Prag und Lausanne (Rafaél-Florian Helfenstein, Nicolas Lefort, Sabine Bengel, Franz Zehetner, Matthias Deml, Klara Benešovská, Christoph Amsler). Nur einzelne Bauhütten waren kontinuierlich aktiv, viele sind erst im Kontext der großen Domvollendungsprojekte und Restaurierungsarbeiten erneut eingerichtet worden, und dann durchaus nicht mehr angebunden an die kirchliche Hierarchie.

»Netzwerk und Verbreitung von Wissen« sind Themen der zweiten Sektion. Sie wird von vier regionalen Übersichten eingeleitet, zum deutschsprachigen Gebiet (Stefan Bürger), zu Nordwestitalien (Silvia Beltramo) und zur Region von Lucera (Arianna Carannante) sowie zu Ungarn (Yves Gallet). Drei Abschnitte widmen sich den historischen und aktuellen Netzwerken der Handwerksgesellen (Jean-Michel Mathonière), der Zimmerleute (François Calame) und der Dombaumeister/Hüttenmeister (Wolfgang Zehetner).

Die dritte Sektion zeigt mit exemplarischen Forschungsergebnissen das »Denken und Handwerkswissen« der Bauhütten vom 13. bis zum 19. Jahrhundert auf. Bauforschung und moderne Vermessung ermöglichen wichtige Einblicke in Paris (vor dem Brand; Stefan Albrecht), Auxerre (Jean-Marie Guillouët), Mailand (Jessica Gritti, Francesco Repishti), Clermont-Ferrand (Mathilde Lavenu) sowie an spätgotischen Bauten in Sachsen (David Wendland, Frédéric Degenève, Nicolas Eberhardt, Maria José Ventas Sierra). Die Bedeutung der Analyse historischer Bauzeichnungen wie Archivalien wird in zwei Beiträgen übergreifend für Nordfrankreich dargestellt (Étienne Hamon, Maïwenn Bourdic).

Den »heutigen Restaurierungs-Bauhütten« ist der vierte Abschnitt gewidmet. Für Sens (Lydwine Saulnier-Pernuit und Michaël Vorrero) wird die Werkstein-Sammlung als wichtige Quelle vorgestellt, für Autun (Frédéric Didier) ein Resümee der bisherigen Restaurierungsarbeiten gegeben. Ihre aktuellen Arbeitsmethoden und ihren sorgfältigen Umgang mit der historischen Substanz präsentieren die Bauhütten in Straßburg (Pierre-Yves Caillaut), Köln (Albert Distelrath) und Prag (Petr Chotěbor). Zur Notre-Dame de Paris gehen zwei Beiträge bereits auf das Restaurierungsprojekt nach der Brandkatastrophe vom 15. April 2019 ein, die eine umfassende Neuorganisation von Forschung und Bauhütte erfordert hat (Aligne Magnien, Pascal Liévaux, Philippe Dillmann).

Bruno Klein plädiert in seinem abschließenden Beitrag für eine zukünftige Erforschung der Bauhütten in weltweitem Kontext. Große neugotische Kathedralbauten zwischen New York und Neuseeland wurden in europäischer Bautechnik errichtet und sind wichtige Zeugnisse der Vermittlung und Veränderung von Handwerkstraditionen.

Diese Publikation bietet einen eindrücklichen Überblick über das Thema der mittelalterlichen und heute noch arbeitenden Dombauhütten. Dabei wird deutlich, dass sogar die historische Forschung zum Bauhüttenwesen, von ganz punktuellen Studien abgesehen, noch am Anfang steht. Sichtbar wird die große Bedeutung der noch arbeitenden Bauhütten eben nicht nur für die von ihnen betreuten Kathedralen und großen Kirchenbauten, sondern gerade als hochbedeutende, erst ansatzweise analysierte Wissensspeicher der Technikgeschichte. Die Initiative zur Eintragung des Bauhüttenwesens als Immaterielles Kulturerbe verdient großen Dank, und dies gilt ebenso für die Publikation dieses vielstimmigen Übersichtswerks, das in allen kulturgeschichtlich ausgerichteten Bibliotheken greifbar sein sollte. Eine ergänzende Präsentation der nicht an Kathedralen tätigen, ebenso kompetenten Bauhütten bleibt zu wünschen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Matthias Untermann, Rezension von/compte rendu de: Isabelle Chave (dir.), Le chantier cathédral en Europe. Diffusion et sauvegarde des savoirs, savoir-faire et matériaux du Moyen Âge à nos jours, Paris (Le Passage) 2020, 428 p., ISBN 978-2-84742-454-6, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90446