History of science ist in den letzten Jahrzehnten zu einem wesentlichen Bestandteil der europäischen Mediävistik geworden und nur in Deutschland eher rückläufig ähnlich wie die ältere Technikgeschichte. Ziel des vorliegenden Bandes, heißt es in der ausführlichen Einleitung der Herausgeber, sei zu zeigen, dass England und Skandinavien in der Entwicklung der mittelalterlichen Naturwissenschaft keine peripheren Bereiche bildeten, sie vielmehr an der Entwicklung der mittelalterlichen Wissenschaft aktiv partizipierten. Für England hat man das im Blick auf Robert Grosseteste, Roger Bacon und die Oxforder Schule wohl nie in Frage gestellt. Skandinavien hingegen galt als randständig. In seiner Aufwertung liegen der Fokus und die Neuheit des Projekts. Es geht um »wandernde Wissenschaft«, also die Wege der Vermittlung, die bis nach Dänemark, Norwegen und Schweden führten. Fast immer zeigen die zehn Hauptautoren ergänzend einen klaren Blick auf die Gesamtentwicklung der mittelalterlichen Wissenschaft, was sich nicht zuletzt in den Bibliografien zu den einzelnen Beiträgen niederschlägt; sie geben den neuesten Stand der derzeit besonders rasch erscheinenden Publikationen, beispielsweise für die neueren kritischen Editionen der optischen Traktate des Robert Grosseteste, für die man bislang auf die Gesamtedition der (natur)philosophischen Werke Grossetestes von Ludwig Baur, Münster 1912, angewiesen war (S. 47, Anm. 5 und 71). Unter der Leitung des Durhamer Mediävisten Giles E. Gasper ist ein neuer eindringender Beitrag zu Grossetestes Traktat über den Regenbogen entstanden. Die Optik dieses Phänomens hat bekanntlich das 13. Jahrhundert intensiv beschäftigt.

Die drei ersten Beiträge widmen sich den englischen »Klassikern« des 12.–13. Jahrhunderts, Roger von Hereford, Robert Grosseteste und Roger Bacon (Nothaft). Es folgen dänische Gelehrte, die ihre Studienzeit zuvor vor allem an der Universität Paris, in minderem Maße auch in Bologna verbracht hatten (Ebbesen). In schwedischen Bibliotheken findet sich eine Fülle von Handschriftenfragmenten, die durch ehemalige Studenten aus Paris überbracht sein dürften; ihr Inhalt wird in Verbindung mit genauer kodikologischer Beschreibung sorgfältig analysiert (Etheridge). Große Bedeutung kommt dem Dominikanerorden in der Ordensprovinz Dacia zu (Jakobsen). Erhaltene Bände stammen u. a. aus dem führenden Dominikanerkloster in Sigtuna, aber auch aus der Bücherei der Franziskaner in Stockholm. Ein norwegischer Dominikaner, Jós Halldórsson, gelangte auf einen Bischofsstuhl in Island und bereicherte dort die reiche Erzähltradition der fernen Insel mit Abenteuern des sogenannten Magister Petrus von Arabun. Der Magister habe seinem Schüler, dem gebildeten Sohn des Kaisers Tiburtius von Sachsen zum Thron verholfen, während ihm die grausame Prinzessin Serena von Frankreich während seiner Pariser Zeit als Schulvorstand große Schwierigkeiten gemacht habe (Turandotmotiv?). Der Text enthält Norwegismen und zahlreiche niederdeutsche Sprachelemente.

Für die mittelalterliche Wissenschaftsgeschichte liegt mit diesem Band ein wesentliches Instrument vor. Der Schlussabschnitt fällt etwas aus dem Rahmen. Er widmet sich den vor allem aus England importierten Waffen und der Rolle des Londoner Waffenmarktes. Näher vorgestellt wird der Immigrant Hermann der Helmmacher (le Heaumer), Sohn einer Gertrud von Köln aus der Zeit des englischen Königs Eduard III. Die Qualität der englischen Waffen erreichte angeblich nicht die der Waffen aus Deutschland, Italien und Spanien. Dem inhaltlichen Reichtum der insgesamt zehn Einzelbeiträge im begrenzten Rahmen einer Kurzrezension gerecht zu werden, ist schwierig. Die nachfolgende Inhaltsübersicht gewährt Orientierung:

Carl Philipp Emanuel Nothaft, Roger of Hereford and the Transformation of Computus in 12th-Century England, S. 27–44.

Giles E. M. Gasper, Brian K. Tanner, Sigbjørn Sønnesyn and Nader el Bizri, Travelling Optics: Robert Grosseteste and the Optics behind the Rainbow, S. 45–76.

Michele Campopiano, Language and Wisdom: Mathematics and Astronomy in Bacon’s Edition of the »Secretum secretorum«, S. 77–96.

Sten Ebbesen, Wisdom’s Trips to Denmark, S. 97–110.

Christian Etheridge, Medieval Scientific Book Fragments Held in Swedish and Finnish Archives: The Tantalizing Remains of a Greater Scientific Corpus, S. 111–140.

Johnny Grandjean Gøgsig Jakobsen, Friars of Science: Dominican Transmission and Usage of Scientific Knowledge in Medieval Scandinavia, S. 141–158.

Marteinn Helgi Sigurdsson, Master Perus of Arabia: An Exemplary Magician in Medieval Iceland, S. 159–180.

Florian Schreck, Science in Medieval Fiction: The Case of Konráðs saga keisarasonar, S. 181–200.

Brad Kirkland, Continental Ironmongers, Whalers, Smugglers, and Craftsmen: Immigration and Trade Routes and their Influence on the London Armourers’ Industry, S. 201–218.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Dietrich Lohrmann, Rezension von/compte rendu de: Christian Etheridge, Michele Campopiano (ed.), Medieval Science in the North. Travelling Wisdom, 1000–1500, Turnhout (Brepols) 2021, 232 p. (Knowledge, Scholarship, and Science in the Middle Ages, 2), ISBN 978-2-503-58804-9, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90451