Die überragende Bedeutung Joachims von Fiore († 1202) als Geschichtstheologe und Exeget wird zunehmend differenzierter erkennbar, je weiter die Gesamtausgabe seiner Werke voranschreitet, zum einen in der Reihe »Fonti per la storia dell’Italia medievale dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo« (Rom) und zum anderen in den seitens der Monumenta Germaniae Historica (München) herausgegebenen »Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters«. Für letztere Reihe die kritische Edition der »Expositio super Apocalypsim« Joachims zu Ende zu führen hat der mit der Überlieferung Joachimscher Schriften aus jahrzehntelanger Arbeit bestvertraute Alexander Patschovsky übernommen. Im vorliegenden Teil 1 des Bandes werden fünf zum apokalypseexegetischen Œuvre Joachims gehörende Schriften textkritisch ediert: drei einleitende Schriften Joachims (»Praefatio super Apocalypsim«, »Enchiridion super Apocalypsim« und »Liber introductorius in Expositionem super Apocalypsim«), bei deren Edition Kurt-Victor Selge († 5. April 2022) aufgrund seiner früheren editorischen Arbeiten als Mitherausgeber genannt wird, und vorangestellt zwei begleitende Schriften (eine »Expositio super ›Bilibris tritici‹ etc. [Apoc. 6,6]« und »De septem sigillis«).
Die Ausgabe wird eröffnet mit der anonym überlieferten, zuerst von Jeanne Bignami-Odier 1937 Joachim zugewiesenen und gedruckten »exegetische[n] Skizze« (S. 47) zu Apoc. 6,6, die hier die Bezeichnung »Expositio super ›Bilibris tritici‹ etc. (Apoc. 6,6)« erhalten hat. Von ihr sind gegenwärtig drei Überlieferungszeugen bekannt. Patschovsky untermauert die Zuschreibung an Joachim und nimmt als Entstehungszeitraum die Mitte der 1180er Jahre an. Die älteste Überlieferung in der aus zisterziensischem Kontext stammenden Handschrift Zwettl, Stiftsbibliothek, Ms. 326 (Joachim-Sigle Z), datiert auf die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert, liegt der Edition zugrunde.
Als zweiter exegetisch zugehöriger Text wird die anonym und ohne Titel überlieferte, unter der Bezeichnung »De septem sigillis« bekannte Schrift nach drei vorhergehenden Editionen erneut ediert. Dies begründet sich u. a. aus der gestiegenen Zahl der Überlieferungszeugen (gegenwärtig 15 Handschriften). Die Textpassagen, die inhaltlich Beischriften zu Joachimschen Baum-Diagrammen wiedergeben, sind in einem Drittel der zurzeit bekannten Handschriften diagrammatisch – in senkrechten Spalten oder als waagerecht verlaufende Textblöcke – überliefert. Mit Marjorie Reeves und Beatrice Hirsch-Reich hält Patschovsky die Autorschaft Joachims für gegeben. Da die Sarazenen in »De septem sigillis« nicht auftreten, stellt er den Herbst 1187 als Terminus ante quem fest; als »gesicherter« Entstehungszeitraum ergibt sich »1183/1187« und als »wahrscheinlicher« Zeitraum »1185/1187« (S. 33). Die gemeinsamen Lesarten von zwei der Forschung gut bekannten Handschriften, der Sammelhandschrift Joachimscher Schriften Padova, Bibliotheca Antoniana, Cod. 322 (A, erstes Viertel 13. Jahrhundert) und der Oxforder Handschrift Corpus Christi College, Ms. 255A (O, erstes Drittel 13. Jahrhundert), bilden, von vier wohlbegründeten Ausnahmen abgesehen, den edierten Text. Die Variantenvielfalt der übrigen Handschriften, »von einem produktiven Umgang mit dem Text« (S. 52) zeugend, biete »[i]n gewissem Umfang […] Lesarten, die durchaus als authentisch im Sinne Joachims gelten können« (S. 55), allerdings ohne dass die diese Produktivität bereits zu Lebzeiten Joachims besonders deutlich zeigende Überlieferung auf einem Blatt (Bx), dessen Beschriftung Mirella Ferrari »auf wahrscheinlich 1170–1190 einschätzt« (S. 36, Anm. 70), deshalb zur Textkonstitution anders beitrüge als nur im Rahmen ihrer stemmatischen Gruppenzugehörigkeit bis zur dritten Verzweigung nach dem Hyparchetyp (S. 59). Der Variantenbestand der Subgruppe, zu der Bx gehört (mit Mi und Ver), wird nicht eigens besprochen (S. 57–58, aber vgl. S. 36–37 zu Bx); er findet sich im Lesartenapparat.
Die von Kurt-Victor Selge 1990 unter dem Namen »Praefatio super Apocalypsim« edierte erste Einführung Joachims in die Apokalypse wird hier unter Einbezug jüngerer Forschungserkenntnisse und vier inzwischen bekannt gewordener Überlieferungsträger erneut herausgegeben. Bei einer stemmatisch sich zweisträngig unterteilenden Überlieferung mit sehr hohen Variantenzahlen werden Lesarten gemäß »mögliche[r] Authentizität im Sinne der Autorschaft Joachims« (S. 124) und im Blick auf rezeptionsgeschichtlich interessierende Lektüren aufgenommen. In einzelnen Fällen begegnet Patschovsky der Vielfalt der Varianten durch synoptischen Spaltensatz. Seine Datierung der »Praefatio« bemisst sich nach Joachims Arbeitsbeginn in Casamari im Sommer 1183 und der Tatsache, dass die Eroberung Jerusalems durch Saladin im Herbst 1187 nicht erwähnt wird.
Da letztere im »Enchiridion super Apocalypsim« und in dessen Neufassung, dem »Liber introductorius in Expositionem super Apocalypsim«, Spuren hinterlassen hat, stellt sie den Terminus post quem für diese beiden Einleitungen dar; deren Terminus ante quem wird durch den Tod Saladins im März 1193 gebildet. Als Entstehungszeitraum des »Liber introductorius« erschließt Patschovsky 1190/1193 und für dessen Abschluss vielleicht sogar die Monate zwischen September 1192 und März 1193, ohne dass spätere Eingriffe Joachims damit ausgeschlossen seien.
Joachims umfangreichste Einführung in sein Apokalypsenverständnis, das in der Überlieferung so benannte »Enchiridion (super Apocalypsim)«, wird hier erstmals auf der Basis der zur Zeit bekannten sechs vollständigen Handschriften, die sich stemmatisch in drei Überlieferungssträngen gruppieren, ediert. Orthografisch folgt die Edition den Schreibungen (einschließlich e-caudata) der zwischen 1190 und 1240 in Kalabrien entstandenen Handschrift Pavia, Biblioteca Universitaria, cod. Aldini 370 (Joachim-Sigle Pv) oder weist diese zumindest nach. Die Textteile, die Joachim in seinen kürzeren, als Vorwort zu seinem Apokalypsenkommentar konzipierten »Liber introductorius« übernommen hat, werden durch eine andere Drucktype kenntlich gemacht. Analoges gilt in dessen Edition für die Übereinstimmungen mit dem »Enchiridion«.
Der in zehn vollständigen Handschriften und einem venezianischen Frühdruck von 1527 überlieferte »Liber introductorius« wird nach sieben stemmatisch ermittelten Überlieferungssträngen ediert. Da er für Joachim und nahezu die gesamte Überlieferung einen integrativen Bestandteil des Apokalypsenkommentars darstellt, macht Patschovsky an dessen Edition »quasi als Pionierstudie die editionskritische Vorgehensweise für den Kommentar selbst [fest]« (S. VII): Ziel ist ein Text, »der den Vorstellungen des Autors so nahe wie möglich kommt. Das schließt Emendationen ein.« (S. 514) Lesarten, die auf Lektüren und Rezeptionen verweisen, werden »nur in begrenztem Umfang« berücksichtigt (ebd.). Allerdings werden auch hier besonders zahlreiche bedeutsame Varianten in Spalten wiedergegeben. Um des Eindrucks willen sind für den Prolog und Kap. 1 die Varianten »nahezu vollständig erfaßt [!] worden« (S. 515). Mangels einer »Leithandschrift« wird die Orthografie in »einem stark normierenden und egalisierenden Modus« behandelt (ebd.).
Sachapparate oder Anmerkungen erschließen Joachims Inhalte jeweils sehr detailliert und betten sie in forschungsgeschichtliche Zusammenhänge ein. Die edierten Texte werden nicht übersetzt, aber vielleicht sind Patschovskys umfangreiche, Joachims theoretisches Universum und komplexe Denkweisen transparent machenden Inhaltserschließungen und Kommentare, die insbesondere den Editionen der drei Einleitungen Joachims vorangestellt sind, viel wertvoller.
Umfangreiche Register bieten weitere Erschließung: nicht nur ein Register der Bibelstellen, Autoren und Werke und ein Namen- und Sachregister (einschließlich der erwähnten Handschriften), sondern auch ein Wortregister und ein Zahlenregister, das alle Vorkommen der Zahlen 1 bis 12 und dann springend exegetisch bedeutsamer Zahlen bis 144 000 enthält.
Der Band der ersten Editionen zu Joachims Apokalypsenkommentierung leistet insgesamt weitaus mehr, als kritische Textausgaben zu bieten haben. Er lässt erwartungsvoll auf den zweiten Teil mit Joachims Apokalypsenkommentar hoffen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sabine Schmolinsky, Rezension von/compte rendu de: Alexander Patschovsky, Kurt-Victor Selge (Hg.), Joachim von Fiore, Expositio super Apocalypsim et opuscula adiacentia. Teil 1: Expositio super »Bilibris tritici« etc. (Apoc. 6, 6): De septem sigillis – Praefatio super Apocalypsim, Enchiridion super Apocalypsim, Liber introductorius in Expositionem Apocalypsis, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2020, XXXIV‑874 S., 1 Abb., 22 Tab. (Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 31), ISBN 978-3-447-11376-2, EUR 168,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90469