Die anzuzeigende Monografie zum Wunderbaren als Wissenskategorie in deutschsprachigen Reiseerzählungen um 1200 basiert auf einer Dissertation, die im Rahmen des Teilprojektes B02 des an der Freien Universität Berlin angesiedelten Sonderforschungsbereiches 980 »Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit« entstand. Ausgehend von dem weiten und dynamischen Wissensbegriff des Berliner Verbundprojektes, macht Falk Quenstedt für seine synchron vergleichende Transferanalyse des »Straßburger Alexander«, des »Herzog Ernst« sowie der »Reise-Fassung des Brendan« überzeugend die heuristische Kategorie des mirabilen Wissens fruchtbar. Mirabiles Wissen, das jeden der drei Erzähltexte in etwas anderer Weise kennzeichne, eröffne bis dato unzureichend erforschte transkulturelle Perspektiven auf mittelalterliche deutschsprachige Literatur insbesondere mit Blick auf Wechselbeziehungen zur arabischen Literatur. Der Autor fasst die Kategorie konsequent dreifach als ein »Wissen von Elementen des Wunderbaren, den Objekten der Verwunderung« (S. 2f.), ein »Wissen über die Verwunderung selbst« (S. 3) sowie ein »Wissen, das selbst in der Lage ist, Staunen zu machen« (S. 3).
Der Analyse geht eine knapp 100-seitige Einführung voraus, die grundlegende Theorie- und Analysekonzepte wie Transkulturalität, Hybridität und Konnektivität nicht lediglich benennt, sondern gleichermaßen forschungs- wie quellennah diskutiert. Detailliert erörtert Quenstedt die Kategorie des Wunderbaren in seinen semantischen Facetten in europäisch-lateinischen (»mirabilia«) sowie arabischen (»ʿaǧāʾib«) Traditionen und macht deutlich, inwiefern mirabiles Wissen »in mehrfacher Hinsicht ein Wissen im Transfer« (S. 9) ist und sich somit hervorragend als Brennglas zur Untersuchung transkultureller Transfers eignet: als dynamisches Wissen zwischen gelehrten und populären Sphären bzw. Diskursen, zwischen verschiedenen kulturellen Bezügen und als Wissen, das Narration und Erfahrungen produktiv zusammenführe. Die Einleitung dürfte künftig nicht nur für weitere Studien zur Transkulturalität mittelalterlicher Literatur als analytischer Werkzeugkasten dienen, sondern auch methodisch-theoretische Anregungen für transkulturell ausgerichtete Studien in angrenzenden mediävistischen Teildisziplinen bereithalten.
In separaten Analysekapiteln werden die drei Erzählungen hinsichtlich der ihnen je eigenen Ausprägungen des Wunderbaren anhand paradigmatischer Episoden untersucht und danach gefragt, wie Verwunderung dargestellt, mit welchen Mitteln Wunderbares in den Texten legitimiert wird und welche transkulturellen Kontexte auszumachen sind. Indem der Autor im »Straßburger Alexander« vielfältige Erzähl- bzw. Wissenselemente, die ebenso in arabischen, hebräischen, provenzalischen, altfranzösischen sowie süditalienisch-lateinischen Texten zu finden sind, identifiziert, weist er dessen Einbettung in eine »mediterrane shared culture« (S. 266) nach. Der verwundernde Effekt transkultureller Transfers wird etwa anhand der Blumenmädchenepisode aufgezeigt, die »als kurzzeitig in der Tradition des Alexanderromans aufscheinender Topos einer transkulturellen Wissensoikonomie in den Blick [kommt], deren Transfermedium das mirabile Wissen bildet« (S. 268). Mithilfe von Praktiken, Realien und geografischen Dimensionen wird für den »Straßburger Alexander« ferner eine kulturelle Ausrichtung auf den östlichen Mittelmeerraum plausibel gemacht. Die Analysen einzelner paradigmatischer Sequenzen aus dem Eroberungsteil, dem Kindheits- und Jugendabschnitt sowie dem Orientteil lassen schließlich einen Lernprozess des Helden nachvollziehen, der sich durch die Erfahrung der Wunder zum Friedensherrscher transformiert.
Während der »Straßburger Alexander« in seiner transkulturellen Qualität als Palimpsest gefasst wird, bieten für den »Herzog Ernst« die Prozesse kultureller Übersetzungen einen fruchtbaren Rahmen bzw. Zugang. Stichhaltig plädiert Quenstedt dafür, dass der Text über die Reiseabenteuer eines adligen Helden nicht auf zwei heterogene Textteile zurückgeht, sondern auf einer oder mehreren mediterranen, gegebenenfalls arabischen Vorlagen basiert. Eindrücklich ist nachzuvollziehen, inwieweit Verfahren des Übersetzens die Herkunft der Texte verschleiern konnten, was Spannungen im Sinne mirabiler Irritationspotentiale impliziert. Deutlich werde dies, so Quenstedt, an der Deutungsoffenheit des Textes. Die Wunder-Erfahrungen, die der adelige Protagonist auf seinen Reisen an fremde Höfe sammelt, entfalten einen fördernden Effekt auf dessen Karriere und lassen ihn, anders als Alexander, gewissermaßen selbst zum Wunder avancieren.
Die dritte Reiseerzählung birgt ebenfalls ein hohes Maß an mirabilem Wissen im Transfer, das narrativ ähnlich funktioniert, jedoch nach Quenstedt einem anderen Sinn diene. Im Fokus des Textes steht ein Abt, den Gott zum Zweck der Glaubensfestigung auf eine Seereise entsendet, damit er sich eigenen Leibes der Wahrheit göttlicher Wunder versichert. Konstitutiv sind vor diesem Hintergrund die Darstellung und der Nachvollzug von Erkenntnisprozessen und die Verhandlung von Geltung. Hybridisierungen diverser Wissenstraditionen zeigt Quenstedt beispielsweise anhand der Darstellungen des Paradieses auf, wodurch exemplarisch eine weitere Spielart des Wissenstransfers diskutiert wird.
Dem Autor gelingt es im besten Sinne, durch die Engführung der mirabilen Wissenskategorie mit Perspektiven des Transfers produktiv transkulturell zu irritieren: In komparativer Perspektive kann Quenstedt um 1200 ein besonderes Interesse am Wunderbaren sowohl in der lateinischen als auch arabischen Literatur feststellen und vielfältige Gemeinsamkeiten und Parallelen hinsichtlich der Thematisierung vom Wunderbaren und seiner Inszenierung wie Geltungsbehauptung herausarbeiten. In seinem stimmigen, theoretisch-methodisch scharfsinnigen und analytisch reichhaltigen Werk demonstriert er somit deutlich die Erkenntnispotentiale konsequent transkultureller Analysezugänge nicht nur für die mittelalterliche Germanistik, sondern auch für eine interdisziplinäre vormoderne Wissensgeschichte. Marginale Monita schmälern die Gesamtleistung des Buches nicht und betreffen lediglich kleinere Unausgewogenheiten in der Struktur. So wäre beispielsweise eine etwas striktere analoge Benennung innerhalb der drei Hauptanalysekapitel der Übersichtlichkeit zuträglich gewesen (vgl. z. B. die Kapitel 2.1, 3.1 und 4.1), und einzelne Teilkapitel hätten sich sicherlich sinnvoll in übergeordnete Kapitel integrieren lassen (s. z. B. Kapitel 2.1.1. und 2.4.1).
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sandra Schieweck, Rezension von/compte rendu de: Falk Quenstedt, Mirabiles Wissen. Deutschsprachige Reiseerzählungen um 1200 im transkulturellen Kontext arabischer Literatur. Straßburger Alexander, Herzog Ernst, Reise-Fassung des Brandan, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2021, XVI–548 S., 10 s/w, 4 farb. Abb. (Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte, 22), ISBN 978-3-447-11676-3, EUR 98,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90472