Es ist nun schon einige Zeit her, dass eine umfassende Monografie, die sich ausschließlich den Juden in der Karolingerzeit widmet, erschienen ist. Obwohl das Thema in etlichen Beiträgen in Zeitschriften und Sammelbänden behandelt wird, sind Arbeiten, die sich in gesamter Breite mit dem Korpus der karolingischen Rechtstexte hinsichtlich der Juden auseinandersetzen, rar und mittlerweile in die Jahre gekommen. Eine vor allem methodisch dringend notwendige Neubewertung dieser Texte bietet Amélie Sagasser in ihrer Heidelberger/Pariser Dissertation. Dabei ist die Autorin stark von der in den Nullerjahren stattfindenden Lotter-Toch-Debatte sowie den textgeschichtlichen Fragestellungen Johannes Heils geprägt. Konsequenterweise wird denn auch im Forschungsanliegen der Studie klargestellt, dass es weniger darum geht, eine etwaige Judenpolitik der Karolinger aufzuzeigen, sondern dass vielmehr nach den Funktionen von Juden und Judentum für die geistlichen und weltlichen Herrschaftsträger zu fragen ist. Damit einhergehend interessiert sich Sagasser dafür, an welchen Stellen in den karolingischen Rechtstexten überhaupt reales jüdisches Leben sichtbar wird und wo es sich um »›imaginiertes und funktionales Judentum‹« handelt (S. 31f.).

Nach einer Einleitung gliedert sich die Studie in zwei Teile: zunächst die systematische Analyse der normativen Texte (S. 41–346) und darauffolgend die kontextuellen Betrachtungen zum karolingischen Judentum (S. 347–466). Schlussbetrachtungen, Bibliografie sowie Namens-, Orts- und Quellenregister schließen die Arbeit ab. Hervorzuheben sind zudem die Resümees am Ende aller Kapitel, die auch der eiligen Leserschaft einen schnellen und gezielten Überblick verschaffen.

In dem weit größeren ersten Teil untersucht Sagasser ausnahmslos alle bekannten normativen Texte der Karolingerzeit, die etwas zu Juden bzw. zum Judentum beinhalten. Im Vordergrund stehen dabei vor allem die Kapitularien, die Herrscherurkunden und die Synodalakten. Besonders erfreulich ist zudem die Aufnahme von Papstbriefen in das Korpus der Rechtsquellen, da diese im Frühmittelalter urkundliche oder rechtsprechende Funktionen erfüllen konnten. Insbesondere bei den Kapitularien geht Sagasser aufgrund der meist fragmentarischen Überlieferung äußerst akkurat vor und bezieht minutiös die handschriftliche Überlieferung in die Argumentation mit ein. Auf dieser Grundlage kommt sie etwa zu dem Schluss, dass die nach wie vor umstrittenen »Capitula de Iudeis« nicht zusammengehören und die in der MGH-Edition von Boretius vorgenommene Bezeichnung als ein Kapitular falsch ist (S. 78). Zugleich hält sie es für möglich, wenigstens Kapitel 1–4 des Textes Karl dem Großen oder Ludwig dem Frommen zuzuschreiben. Ansonsten finden sich in diesem Kapitel die in der Frühmittelalterforschung weitestgehend bekannten Kapitularien, allerdings fasst die Autorin den Begriff der Gattung recht weit und schließt auch die »Raffelstetter Zollordnung« hier mit ein, was damit begründet wird, dass diese in Form und Aufbau an die Tradition eines Kapitulars anknüpft (S. 104f.). Anhand der Kapitularien kann Sagasser fundiert nachweisen, dass es keine einheitliche und konsistente Judenpolitik der Karolinger gab, wie hier und dort postuliert wurde. Etwas verwirrend ist dann aber die recht plötzliche Aussage im ersten Resümee, dass der in den Kapitularien erwähnte iudeus nicht einen bestimmten Juden meinen könnte, sondern die religiöse Minderheit als »Topos benutzt oder vielleicht für etwas ganz anderes instrumentalisiert wurde«, ohne dass genauer erläutert wird, worum es sich dabei eigentlich gehandelt haben soll (S. 117), zumal wenige Seiten zuvor historisch greifbare Erkenntnisse zusammengefasst werden, die sich hinsichtlich der gerichtlichen Stellung und der jüdischen Händler aus den Kapitularien ergeben.

Einen solchen Topos bzw. eine argumentative Funktion von Juden und Judentum kann Sagasser hingegen in den Synodalakten belegen. So wurden etwa auf der Synode von Cividale del Friuli (796/797) die Juden und der Schabbat systematisch für die kirchenrechtliche Einforderung der Sonntagsruhe instrumentalisiert (S. 187–190). Ebenso fungierten die Juden für die nach Stabilität und Kircheneinheit strebenden Synodalväter von Meaux/Paris (845/846) und Pavia (850) als ein rhetorisches Element in einem weitestgehend erfolglosen Programm gegen Laienadel und Kaiser. Allerdings wurden die Juden auf den Synoden keineswegs immer als argumentatives Mittel eingesetzt. So kann Sagasser unter Einschluss der Siedlungsgeschichte zeigen, dass etwa Beschlüsse süditalienischer Synoden durchaus reale Juden zum Gegenstand hatten (S. 341f.). Wenig überraschend verwendeten auch die Päpste, insbesondere Hadrian I. und Nikolaus I., die Juden für ihre theologischen Diskurse, griffen dabei jedoch primär auf die Juden der Bibel und aus den Schriften der Kirchenväter zurück, ohne sich auf zeitgenössische Juden zu beziehen.

Im zweiten Teil stellt Sagasser zunächst fest, dass der Versuch, sich auf Grundlage der normativen Texte der Geschichte der Juden im Frühmittelalter zu nähern, schnell an seine Grenzen stößt (S. 349). Indes können einige Quintessenzen über Juden und Judentum als historische und politische Konzepte aus den karolingischen Rechtstexten gezogen werden. So kommt Sagasser zu dem Ergebnis, dass das historische Judentum als Anknüpfungspunkt für das Selbstverständnis der Karolinger als »Neues Israel« herhalten musste und darüber hinaus ein »›politisiertes Judentum‹« zum Zwecke außenpolitischer und dogmatischer Machtkämpfe, etwa mit Byzanz, verwendet wurde. Zugleich kann Sagasser plausibel machen, dass die in den bischöflichen Quellen geäußerte Angst vor einer etwaigen Judaisierung oder auch nur vor jüdischen Einflüssen ohne Realitätsbezug war. Sie diente viel eher der Schaffung einer Bedrohungslage von außen und damit einhergehend einer Ermahnung an die korrekte christliche Lebensführung (S. 434f.). Zu kritisieren wären in diesem Abschnitt jedoch die zahlreichen Redundanzen. Diese werden zwar bereits zu Beginn der Arbeit angekündigt (S. 38), sind bei der Lektüre aber keineswegs punktuell und nicht nur fachlicher, sondern z. T. auch stilistischer Natur. Ebenso lässt sich die Annahme kritisieren, die jüdische Minderheit werde in den Quellen als wirtschaftliche Bedrohung dargestellt (S. 361). Urkunden und Formulae tun dies ohnehin nicht, so manches Kapitular (»Capitulare de disciplina palatii Aquisgranensis«) schließt auch christliche Händler in seine Maßnahmen mit ein, und dass Synoden den Juden untersagten, als Richter oder Steuereintreiber tätig zu sein, ist theologisch und nicht wirtschaftlich begründet.

Dies mögen Details und Spitzfindigkeiten sein, die jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Amélie Sagasser ein wichtiges Buch vorgelegt hat. Die Frage, was mit den Juden in den christlichen Quellen des Frühmittelalters eigentlich gemeint ist und welche Funktionen sie dort erfüllen, ist elementar für das Verständnis der Geschichte der Juden, die nicht immer mit den christlichen Texten über Juden identisch ist (Michael Toch). Wer also in Zukunft nach dem Aussagewert karolingischer Rechtstexte hinsichtlich dieses Themas fragt, dem ist die Studie von Amélie Sagasser zu empfehlen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Danny Grabe, Rezension von/compte rendu de: Amélie Sagasser, Juden und Judentum im Spiegel karolingischer Rechtstexte, Berlin (Peter Lang Edition) 2021, 568 S. (Judentum und Umwelt/Realms of Judaism, 84), ISBN 978-3-631-83732-0, EUR 96,95., in: Francia-Recensio 2022/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90476