Postkolonialistisch geleitete Zugriffe sind in den vergangenen Jahren auch für die Mediävistik zunehmend bedeutsam geworden. Der von Dominique Valérian verantwortete und in einer Reihe der renommierten französischen Casa de Velázquez erschienene Sammelband führt eindrücklich das methodisch-theoretische Potenzial dieses Ansatzes vor: Er erörtert im Rekurs auf Edward Said1 kritisch die »orientalisation du Maghreb« (S. 2), indem die sogenannten Berber, ihre Konstruktion durch muslimische Autoren der islamischen Zentralregionen sowie maghrebinische Eigen- respektive Gegennarrative zwischen dem 7. und dem 15. Jahrhundert untersucht werden.

Dominique Valérian eröffnet den Band mit einer konzisen Einführung zu Forschungs- und Begriffsgeschichte des Maghreb und der Berber und spannt dabei einen weiten zeitlichen Bogen von der Antike bis zur (post-)kolonialen Moderne. Für die diskursive Aushandlung der Rolle der Berber im dār al-islām sei wesentlich, dass der Begriff »Berber« zunächst die Gesamtheit der Bewohner des Maghreb im Moment der arabisch-islamischen Expansion bezeichne und damit die Eroberer-Perspektive des Mašriq spiegle – womit zugleich eine terminologische Abgrenzung von seinen griechischen und lateinischen Vorläufern geboten sei. Ausgehend von dieser Prämisse diskutieren die Beiträge des Bandes das komplexe, nicht auf seine begriffliche Binarität zu reduzierende Wechselverhältnis zwischen den frühen Zentren des Islam wie Damaskus und Bagdad einerseits und der Region zwischen Atlantik, Mittelmeer, Rotem Meer und dem Sahel andererseits. Im Sinne einer Alteritätsforschung wird nach diskursiven Praktiken des othering, mithin nach charakteristischen Zuschreibungen, ebenso wie nach Eigenwahrnehmungen und Identitäten gefragt.

Die acht Aufsätze des Bandes gliedern sich in drei übergeordnete Kapitel, wobei das erste mit zwei Beiträgen den Ursprüngen der Berber, das zweite mit drei Beiträgen Widerstand und Gegen-Diskurs und das dritte mit wiederum drei Beiträgen der Sprache und Genealogie gewidmet ist. Während Annliese Nef präzise die Entstehung der Kategorie »al-barbar« in der islamischen Frühzeit in Abgrenzung zu antiken Semantiken bestimmt, reflektiert sie ebenso wie Dominique Valérian in seiner Einleitung moderne Begriffe der Region und seiner Bewohner (heute als Amaziɣ, Plural Imaziɣen gefasst). Ramzi Rouighi stellt fest, dass der Maghreb und die Berber erstmals im Zuge der arabisch-islamischen Expansion als einheitliches Gebiet bzw. Volk konzeptualisiert wurden, und zeichnet die arabisch-islamischen narrativen Zuschreibungen zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert quellennah nach. Zentral für die Entwicklung ihrer Konstruktion war nach Rouighi unter anderem der Dynastiewechsel zu den Abbasiden: »C’est au cœur de ce savoir impérial que s’exprime le désire des lettrés d’établir des connaissances sur ›les peuples‹ du monde connu, dont les Berbères« (S. 33f.). Dies impliziere zugleich, dass der Terminus in seinem Bedeutungsgehalt wandelbar sei.

Soléna Cheny befasst sich in ihrem Aufsatz ebenso quellennah mit dem Diskurs zur Widerständigkeit respektive dem Widerstand der Berber bei der Eroberung ihres Lands in der islamisch-arabischen Historiografie. Cheny differenziert fünf Arten des Widerstandes, identifiziert seine Funktionalisierung etwa in dynastischen Diskursen zwischen Abbasiden und Umayyaden und als Ausweis der Frömmigkeit. Gleichwohl könnten die Texte punktuell Auskunft über historische Reaktionen der Bewohner auf die Expansion bieten.

Allaoua Amara knüpft zeitlich an die vorangehenden Beiträge an und untersucht, wie sich der Diskurs über die Berber und den Maghreb vom 9. bis zum 14. Jahrhundert wandelte. Etwa anhand von Ibn Ḫaldūn (gest. 1406) legt Amara dar, dass das Konzept im Wesentlichen sprachlich definiert war. Cyrille Aillet ergänzt die diskursgeschichtlichen Beiträge zu kulturellen, politischen und geografischen Dimensionen um eine frömmigkeitsgeschichtliche Perspektive, indem er die Ḥadīth-Literatur (d. h. die Diskurse in Auseinandersetzung mit den überlieferten Aussprüchen und Handlungen des Propheten Muḥammad) des ibatischen, mithin maghrebinischen Autors Ibn Sallām in den Blick fasst und damit auch auf diesem Feld markante Positionen in Auseinandersetzung mit Autoren anderer islamischer Zentren ausmacht.

Ein weiteres methodisches Konzept macht Helena De Felipe fruchtbar, die die Sektion zu Sprache und Genealogie mit einem Aufsatz zur kulturellen Hybridisierung beginnt und aufzeigt, wie mit der Nutzung der arabischen Sprache im Maghreb die Übernahme und Weiterentwicklung verschiedener Begriffe und Konzepte einherging und sich die Bewohner des Maghreb sukzessive in den islamischen Kulturraum einschrieben: »un développement de la représentation textuelle que font d’eux les Arabes, mais également une appropriation de motifs, langages et discours arabes qu’ils utilisent pour se situer à nouveau dans l’espace islamique« (S. 109). Eine diskursive Rückschau im Hinblick auf die Wahrnehmung des geografischen Raums, der den Berbern zugeschrieben wurde, bietet Mohamed Meouak indes mit seinem Vergleich prä-islamischer und islamischer Definitionen. In Anknüpfung an einige der anderen Beiträge greift Meouak hierbei erneut biblische Konnotationen im Zusammenhang mit den Ursprungsnarrativen der Berber, die tribalen Sozialstrukturen sowie die damit verbundenen Namenstrukturen auf. Mehdi Ghouirgate demonstriert schließlich anhand der Sprache der Almohaden, wie sich eine spezifische Dynastie des Maghreb nicht lediglich gegenüber anderen islamischen Herrschaften abgrenzte, sondern vor allem hinsichtlich ihrer Frömmigkeit einen Führungsanspruch im dār al-islām zum Ausdruck brachte.

Der Band zeichnet sich im Besonderen dadurch aus, dass sich alle Beitragenden produktiv mit dem methodisch-theoretischen Rahmen auseinandersetzen und die einzelnen Aufsätze dadurch vielfach inhaltliche wie methodische Bezüge untereinander aufweisen. Die mehrheitlich konzise gehaltenen Beiträge, die allesamt ein hohes analytisches Niveau aufweisen, bilden einen kohärenten Band, der ein überaus gelungenes Beispiel für vergleichende Studien zum Wechselverhältnis zwischen Eroberern und eroberter Region darstellt und zukünftig – wie Maribel Fierro in ihrem gelungenen Resümee schreibt – zu weiteren ähnlichen islamwissenschaftlichen und mediävistischen Arbeiten anregen dürfte.

1 Vgl. Edward Said, Orientalism, New York 1978.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sandra Schieweck, Rezension von/compte rendu de: Dominique Valérian (dir.), Les Berbères entre Maghreb et Mashreq (VIIe–XVe siècle), Madrid (Casa de Velázquez) 2021, VIII–181 p. (Collection de la Casa de Velázquez, 184), ISBN 978-84-9096-325-8, EUR 21,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90480