Der vorliegende Band der renommierten buchhistorischen Zeitschrift »Histoire et Civilisation du Livre« enthält zunächst einen umfangreichen Thementeil und dann sechs Einzelstudien zu verschiedenen Themenbereichen der Buchhistorie und schließlich einen Rezensionsteil. Der von Christine Bénévent, Emmanuelle Chapron und Jean-Dominique Mellot herausgegebene Thementeil trägt den Titel »Où va l’histoire du livre? Bilans et chantiers dans le sillage d’Henri-Jean Martin (1924–2007)« und ist dem zweifellos wichtigsten und einflussreichsten französischen Buchhistoriker gewidmet. Er verfolgt die Zielsetzung, die von ihm in wegweisenden und international breit rezipierten Publikationen wie seinem mit Lucien Febvre 1957 veröffentlichten Buch »L’apparition du livre« und der mit Roger Chartier 1983 herausgegebenen, monumentalen »Histoire de l’édition française« entwickelten Fragestellungen und Forschungsansätze systematisch weiterzudenken und weiterzuentwickeln.

Das vorgelegte Dossier ist mit 16 Beiträgen ebenso reich wie vielfältig und – fast notwendigerweise – recht heterogen. Nach einer sehr substantiellen Einleitung des Mitherausgebers Jean-Dominique Mellot folgen zwei Sektionen (»Défrichements et découvertes«, »Réceptions européennes d’H.-J. Martin«) mit Beiträgen von Catherine Rideau-Kiruchi, Paul Saenger, Olivier Desgranges, Lodovica Braida, Raphaële Mouren und Charlotte Kempf zur Bedeutung des Werks von H.-J. Martin und seiner Rezeption in Italien, Großbritannien und Deutschland. Die folgende Sektion, mit Beiträgen von Isabelle Pantin, Sachiko Kusukawa und Max Engammare ist Fragen der typografischen Gestaltung und der Text-Bild-Relationen in buchhistorischer Perspektive gewidmet. In der letzten Sektion (»Chantiers«) knüpfen mehrere Beiträge ausdrücklich an Forschungen und Forschungsansätze von H.-J. Martin an, wie die Studien von Emmanuelle Chapron zu den Erziehungsbüchern (»livres d’éducation«) im Frankreich des 18. Jahrhunderts und der die Schlussfolgerungen des Thementeils umfassende Beitrag von Roger Chartier über »Les paradoxes d’un historien: Henri-Jean Martin«. Die Beiträge von Grégoire Holtz zu dem Kupferstecher Melchior Tavernier, von Alain Riffaud zur Thematik der Privilegienvergabe im Verlagswesen des 17. Jahrhunderts, von Virginie Cerdeira zum »Mercure françois« unter buchhistorischem Blickwinkel und von Olivier Grellety Bosviel zur Publikation von Lieder- und Notenbüchern (»livres de musique«) betreffen spezifische Fallstudien, die jedoch durchgehend an wichtige Fragestellungen und Forschungsfelder von H.-J. Martin anschließen.

Für die an buchhistorischen Forschungsperspektiven in interdisziplinärer Perspektive interessierten Leserinnen und Leser sind vor allem folgende Beiträge von herausragendem Interesse. Zunächst der Einleitungsbeitrag von J.-D. Mellot, conservateur an der Bibliothèque nationale de France und Schüler von H.-J. Martin, der den Titel des gesamten Dossiers trägt und in sehr informativer und bestens dokumentierter Weise die Bedeutung der Forschungen und Publikationen von H.-J. Martin herausarbeitet und die vorliegenden Beiträge hiermit in Verbindung setzt. Präzise zeigt er die vielfältigen Beziehungen der buchhistorischen Forschungen von H.-J. Martin mit den Ansätzen der Annales-Schule auf, die sein erster Mentor, Lucien Febvre, zusammen mit Marc Bloch Ende der 1920er Jahre begründete. Ihnen verdanke das Werk Martins seine interdisziplinäre Ausrichtung und seine Rezeption in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, von der Geschichtswissenschaft über die Kultur- und Literaturwissenschaften bis hin zur Musikgeschichte. Mellot unterstreicht, wie auch mehrere Beiträger des vorliegenden Bandes, insbesondere der US-amerikanische Buchhistoriker Paul Saenger in seinem Beitrag »Henri-Jean Martin and the Birth of the History of Reading. A Memoir« (S. 51–60) und der französische Buch- und Kulturhistoriker Roger Chartier, die »unersättliche Neugier« (»l’insatiable curiosité«, S. 247) H.-J. Martins: sie habe ihn von seinem ursprünglichen Lehr- und Forschungsfeld, den Inkunabeln und der Manuskriptkultur des Mittelalters, sukzessive zu neuen Forschungsobjekten geführt: zur Geschichte des gedruckten Buches in der Frühen Neuzeit, seiner Drucker, Verleger und Leser; zu den vielfältigen Beziehungen zwischen mündlichen und schriftbasierten, gedruckten und in Manuskriptform zirkulierenden Kommunikationsmedien; zur Geschichte der Zensur; und zu Bereichen wie der Kolportageliteratur, wie z. B. der sogenannten Bibliothèque Bleue, deren Erforschung er mit dem ihm eigenen Sinn für Paradoxien und rhetorische Pointen u. a. wie folgt begründete: »nos bibliothèques sont remplies de livres qui n’ont jamais été lus – alors que les livres lus ont, pour beaucoup, disparu« (zit. bei Mellot, S. 31). Martin stellte in seinen letzten Publikationen und Interviews auch die Frage nach der möglichen Integration der Buchwissenschaft in die Medien- und Kommunikationswissenschaften offen zur Diskussion – eine derzeit auch in Deutschland kontrovers diskutierte Thematik1, zu der J.-D. Mellot in seinem Einleitungsbeitrag sehr dezidiert Position bezieht für die Autonomie der Buchgeschichte und -wissenschaft als Disziplin und Forschungsfeld (S. 32).

Roger Chartier weist in seinem kurzen, sehr dichten und anregenden Beitrag »Paradoxies d’un historien: Henri-Jean Martin« (S. 243–247) auf das Paradoxon der engen, aber zugleich widersprüchlichen Zusammenarbeit von H.-J. Martin und L. Febvre hin. Martin habe »L’apparition du livre«, das er nach dem Tod Febvres im Jahre 1956 allein zu Ende geführt habe, »mit, für, aber auch gegen Lucien Febvre geschrieben« (»En un certain sens, écrit avec et pour Lucien Febvre, ›L’apparation du livre‹ l’est aussi contre lui«, S. 245). In der Tat betonte Martin, ganz im Gegensatz zu Febvre, in den von ihm verfassten Teilen des gemeinsamen Werkes die Bedeutung der Geschichte des nicht gedruckten, als Manuskript zirkulierenden Buches; er sah, anders als sein Co-Autor und auch im Gegensatz zu den späteren Forschungen von Elizabeth Eisenstein2, in der Erfindung des Buchdrucks und ihren Auswirkungen kein innovatives Ferment, eine 1957 überzogen formulierte Position, die Martin in späteren Forschungen deutlich nuancierte; und Martin richtete, anders als Febvre, der vor allem an den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen der Buchgeschichte interessiert war, seinen Blick systematisch auch auf die Mikrostrukturen der Materialität des Buches, von der Typografie bis zu Formaten, Drucktypen und Vignetten, als bedeutungstragender und leserlenkender Dimension, eine Forschungsperspektive, die in der Folge u. a. Donald Francis McKenzie, Armando Petrucci und Roger Chartier weiterverfolgen sollten.

Der Beitrag von Charlotte Kempf (»Différences partagées. Buchwissenschaft et Histoire du livre en Allemagne et en France«, S. 99–111) zeigt Konvergenzen und Unterschiede zwischen der – in Deutschland nur an wenigen Universitäten verankerten – Disziplin der Buchwissenschaft und der französischen Histoire du livre in der von H.-J. Martin begründeten Tradition auf. Auffällig und zugleich zu beklagen ist, wie C. Kempf aufzeigt, dass die deutsche Buchwissenschaft deutlich weniger interdisziplinär ausstrahlt als ihr französisches Pendant. Zu bedauern sei auch, so C. Kempf, dass das Pionierwerk H.-J. Martins diesseits des Rheins weit weniger Aufmerksamkeit, Würdigung und kritische Weiterentwicklung gefunden habe als in anderen Wissenschaftskulturen. Detailliert und eindrucksvoll belegen dies der erwähnte Beitrag von Paul Saenger sowie die Beiträge von Raphaële Mouren zur Rezeption Martins in Großbritannien und von Lodovica Braida zu dem – vor allem durch den Paläografen Armando Petrucci vermittelten – Einfluss der Werke Martins in Italien. So liegt im Deutschen – anders als im Italienischen, Englischen, Spanischen, Portugiesischen, Chinesischen und Japanischen – weder eine Übersetzung von »L’apparition du livre« noch anderer Werke Martins vor, ebenso wenig wie etwa die Publikationen seines Schülers Frédéric Barbier, die zahlreiche Bezüge zur Buchgeschichte des deutschen Kulturraums aufweisen, bisher ins Deutsche übersetzt wurden3. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von der anders gelagerten Ausrichtung der Buchwissenschaft in Deutschland bis hin zum – auch sprachlich bedingten – gesunkenen Interesse an französischen Forschungen und Publikationen auch im Bereich der deutschen Kultur- und Geschichtswissenschaften.

Die sechs Beiträge zur Buchgeschichte (»Études d’Histoire du livre«), die an das Themendossier anschließen, umfassen spezifische Fallstudien und betreffen sehr unterschiedliche Objekte, die von der Produktion von Mathematikbüchern im Paris des 16. Jahrhunderts (Alissar Lévy) über die Verlagsgeschichte der Zeitschrift »Mercure françois« (Virginie Cerdeira) und das Forschungsfeld der Zensurgeschichte (Nicolas Schira) bis zum House of Galignani, einem für den englisch-französischen Kulturtransfer im 18. Jahrhundert wichtigen Verlagshaus (Diana Cooper-Richet), reichen. Die dichte und anregende Studie von Catherine Volpiac-Auger über die »Réfexions et Observations sur l’Esprit des Lois« de Claude Dupin ist für Spezialisten des Werks von Montesquieu von Interesse, betrifft jedoch nur sehr am Rande die im Zentrum der Zeitschrift stehenden buchhistorischen Fragestellungen. Unter diesen Studien ist besonders die detaillierte und bestens dokumentierte Untersuchung von Anne Boyer und Francis Freundlich zur Zirkulation und Überwachung von klandestinen Büchern im Frankreich des 18. Jahrhunderts (»Colporteurs ›sous le manteau‹, compagnons imprimeurs et intermédiaires du livre clandestin dans les papiers du commissaire Philippe-Aignan Miché de Rochebrune [1701–1774], S. 325–350) hervorzuheben.

Unter den insgesamt neun Rezensionen dieses Bandes ist vor allem Frédéric Barbiers Besprechung des Bandes »Michel Foucault et la question de l’auteur. ›Qu’est-ce qu’un auteur?‹ Texte, présentation et commentaire« (2019), der von Dinah Ribard herausgegeben wurde, erwähnenswert. Der Rezensent zeigt sehr präzise das methodische und theoretische Innovationspotential des 1969 erschienenen, viel zitierten Textes von Foucault, aber auch seine zahlreichen Lücken und Widersprüche auf. Mit Recht betont Barbier die bisher eher marginale Stellung der Kategorie des »Autors« und der Autorfunktion in der buchhistorischen Forschung (»l’auteur en tant que tel est jusqu’à présent resté relativement en retrait de travaux d’histoire du livre«, S. 409). In einer Fußnote fügt Barbier schließlich folgende kritische Anmerkung zu den allzu selektiven, ausschließlich auf französisch- und englischsprachige Titel beschränkten bibliografischen Referenzen des rezensierten Werkes hinzu: »Le fait que les références bibliographiques proposées (même les plus récentes) soient exclusivement en français ou en anglais nous semble à cet égard révélateur d’un probème persistant, et auquel l’historien du livre doit impérativement être sensible« (S. 409).

Dieser kritischen Feststellung ist uneingeschränkt beizupflichten, auch im Hinblick auf mehrere Beiträge des oben besprochenen Themendossiers zum Werk Martins: im Gegensatz zu H.-J. Martin selbst, dessen Werk sich durch eine komparatistische und transkulturelle Ausrichtung auszeichnet und Publikationen nicht nur erwähnt, wenn sie auf Französisch oder Englisch vorlagen, ist eine Reihe von Beiträgen in dieser Hinsicht recht frankozentrisch, auch was die bibliografischen Referenzen angeht, wie etwa die Studien von Isabelle Pantin, Max Engamma und Emmanuelle Chapron, deren recht knapper Beitrag zu den Erziehungsbüchern des 18. Jahrhunderts (»Une approche appuyée sur les travaux d’Henri-Jean Martin: le livre d’éducation au XVIIIe siècle«, S. 211–224) auch angesichts der umfangreichen (aber nicht erwähnten) Forschungen zu dieser Thematik vor allem in Deutschland unbedingt im Titel den Zusatz »en France« hätte enthalten sollen.

1 Vgl. die derzeitige Debatte um die Neubesetzung des Lehrstuhls für Buchwissenschaft an der Universität Leipzig und seine Denomination u. a.: Thomas Thiel, Leipzig liest kein Buch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 184, 10.8.2022, S. 9.
2 Siehe vor allem ihre wegweisenden Bücher: Elizabeth Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change, Cambridge 1979; Id., The Printing Revolution in Early Modern Europe, Cambridge 1983.
3 Siehe hierzu den Beitrag von Mellot, S. 18, Fußnote 27.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hans-Jürgen Lüsebrink, Rezension von/compte rendu de: Christine Bénévent, Emmanuelle Chapron, Jean-Dominique Mellot (dir.), Où va l’histoire du livre? Bilans et chantiers dans le sillage d’Henri-Jean Martin (1924–2007), Genève (Librairie Droz) 2020, 417 p. (Histoire et civilisation du livre – Revue internationale, XVI), ISBN 978-2-600-06220-6, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2022/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90516