Das übergreifende Interesse dieser bemerkenswerten, auf eine Habilitationsschrift der Goethe-Universität Frankfurt am Main zurückgehenden Monografie betrifft die Geschichtswissenschaft gewissermaßen ganz fundamental: Was ist das für ein Ding, auf das sich Historikerinnen und Historiker als Ausweis historischer Wahrheit berufen, was eigentlich ist ein historisches Zeugnis? Die Frage wird nicht abstrakt-theoretisch oder methodologisch-lehrbuchmäßig traktiert, vielmehr konkret an historischem Material exekutiert, in Hinsicht darauf, wie etwas in einer bestimmten historischen Zeit unter bestimmten Umständen zu einem »Geschichtsding« – so der schöne Leitbegriff der Untersuchung – wird. Untersuchungszeitraum ist Frankreich im 18. und frühen 19. Jahrhundert, spezieller Gegenstand die damals zahlreich und vielfältig unternommenen historischen Forschungen zur »gallischen« Vergangenheit. Das besondere Interesse gilt dabei der Rolle, die nicht schriftliche Relikte unterschiedlichster Art und Provenienz gespielt haben. Vier Abschnitte gliedern die Arbeit nach »Einleitung« und »Prolog«: Das erste Kapitel situiert und differenziert das Untersuchungsfeld epistemologisch (»[Ein] Denkmal – was war das?«, S. 37–125), das zweite Kapitel analysiert, wie Relikte der Vergangenheit im 18. und frühen 19. Jahrhundert als »gallische Denkmale« wahrnehmbar und lesbar wurden, welche Evidenzen, Methoden, Praktiken dabei zum Einsatz kamen (»Die gallischen Denkmale im Spannungsfeld zwischen christlichem Universalismus und autochthoner Vergangenheit«, S. 126–204), das dritte Kapitel greift diese Fragestellung erneut auf, nun aber aus anderer Perspektive (»Provincializing Paris: die gallischen Denkmale aus der Sicht der Provinz«, S. 248–366), das vierte Kapitel untersucht, wie »gallische« Denkmale im Gefolge der Französischen Revolution national aufgerüstet wurden (»Denkmale für das französische Volk – das Volk als Denkmal«, S. 367–442). Ein »Epilog« (S. 443–450) reflektiert die Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf die Entwicklung der französischen Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert.
Die Untersuchungen darüber, was französische Gelehrte im 18. Jahrhundert wie als Zeugnisse »gallischer« Vergangenheit verhandelten, stützen sich auf archivarische und gedruckte Quellen, einen breiten Korpus unterschiedlicher Herkunft: Dom Bernard de Montfaucons »L’Antiquité expliquée et représentée en figure (1719–1724)«, in der erstmals »monuments gaulois« abgebildet und beschrieben wurden, Berichte und Briefe über »gallische Denkmale«, auch historiografische und geografisch-topografische Abhandlungen, Studien über Sitten- und Gebräuche und Naturgeschichten sowie Publikationen in gelehrten Journalen und Periodika. Insbesondere die Quellen zum »gallischen Diskurs« in den französischen Provinzen (Burgund, Elsass bzw. Lothringen, Bretagne) werden in dieser Studie erstmals im Zusammenhang ausgewertet. Besondere Aufmerksamkeit widmet Lisa Regazzoni den zahlreich überlieferten gedruckten und ungedruckten (S. 205–247 in einer Auswahl reproduzierten) Abbildungen von »Denkmalen«, die für die Auseinandersetzung über die »gallische« Vergangenheit konstitutiv waren und »transparent machen, was ihre Urheber an bestimmten Objekten sehen, selektieren, hervorheben oder ausblenden wollten bzw. konnten« (S. 14f.). Mit geradezu penibler Akribie wird auf dieser reichen und vielfältigen Quellengrundlage der Diskurs über die »gallische« Vergangenheit rekonstruiert und anschaulich dargestellt, dass historische Zeugnisse keine festgefügten Wesen sind, nichts »a priori existierendes« (S. 55), sondern veränderliche, aus komplexen Erkenntnisprozessen, politischen Einstellungen und gesellschaftlichen Kontexten, Wahrnehmungsweisen und Aktivitäten hervorgegangene, damit historisch veränderliche Produkte.
Mit dem besonderen Interesse für Forschungspraktiken und den damit verknüpften Beweisführungen orientiert sich die Studie an Bruno Latours praxeologischem Ansatz. Die Historisierung der untersuchten Praktiken und Diskurse wird aber nicht so weit getrieben, dass historische Episteme als diskontinuierlich, unverbunden aufeinanderfolgend erscheinen, »ohne Übergänge, als getrennte Denkhorizonte«, wie es einmal in einer Kritik von Michel Foucaults «Die Ordnung der Dinge« heißt (S. 28, Anm. 70). Inspiriert von ihrem speziellen Untersuchungsgegenstand versteht die Autorin ihre historische Arbeit im Bild der »archäologischen Ausgrabung, bei der die verschiedenen horizontalen Bodenschichten nicht klar getrennt aufeinanderliegen« (S. 28). Wie »chronologisch auseinanderliegende Erdschichten« im Laufe der Zeit »miteinander in Berührung kommen«, berühren sich auch historische Episteme und greifen ineinander. Wovon sich Regazzoni aber konsequent abgrenzt, hier durchaus in der Tradition von Foucault, sind teleologische Rekonstruktionen. Ausgehend von dem feinsinnig analysierten Geflecht der Bedingungen, Praktiken und Gewissheiten, aus dem der Diskurs über »Geschichtsdinge« damals zusammengesetzt war, kritisiert sie gängige Sichtweisen gegenwärtiger Forschung, etwa die Auffassung, dass die Forschungen zur »gallischen« Vergangenheit im 18. Jahrhundert als »Arbeit an der Nationenbildung« (S. 4) zu interpretieren oder das damalige Interesse für die immaterielle Kultur französischer Bauern, die als historische Spur »gallischer« Sprache und Gebräuche ausgelegt wurde, von der »Praxis der Beobachtung der indigenen Völker in der Neuen Welt durch die Europäer« (S. 252) abzuleiten sei.
Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die vielen aufschlussreichen Analysen und klugen Beobachtungen dieser innovativen Studie im Einzelnen vorzustellen. Die Arbeit ist kunstvoll komponiert und spannend zu lesen, doch die thematische Engführung auf »gallische Geschichtsdinge« ermöglicht nur sehr bedingt übergreifende Einsichten in den Formierungsprozess der modernen Geschichtswissenschaft. Zurecht weist Lisa Regazzoni im »Epilog« darauf hin, dass die »source totale«, wie sie im 18. Jahrhundert im Zusammenhang der Forschungen zur »gallischen« Vergangenheit imaginiert wurde, »für die Konstruktion der Nationalgeschichte im 18. Jahrhundert« (S. 443) kaum eine Rolle gespielt hat und in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts auf schriftliche Dokumente reduziert wurde. Zwar öfters konstatiert, doch nicht genauer analysiert wird in der Arbeit, dass die Evidenz schriftlicher Zeugnisse auch die untersuchten Forschungen zur »gallischen« Frühgeschichte im 18. Jahrhundert bestimmte, wie etwa das ständige Bemühen der Gelehrten belegt, schriftlose Monumente wie Menhire mit schriftlichen Zeugnissen (der Bibel, der griechischen und römischen Antike) in Konkordanz zu bringen. Das in der Frühen Neuzeit entwickelte Instrumentarium historischer Kritik orientierte sich am Modell schriftlicher Überlieferung. Auch deshalb beschränkte sich die sich seit dem 18. Jahrhundert als Fachwissenschaft formierende Historie auf schriftliche Dokumente als Quellengrundlage und grenzte sich damit von den in der Studie nur ganz am Rande berücksichtigten neu entstandenen Zivilisationsgeschichten und Geschichtsphilosophien ab, deren bevorzugter Gegenstand die schriftlose Vergangenheit wurde und die statt auf schriftliche Überlieferung und historische Kritik auf Anthropologie, ethnografische Empirie und philosophische Vernunft setzten. Von der »Fixierung auf das Dokument als Schriftstück« (S. 448) löste sich die Geschichtswissenschaft letztlich erst mit der vollständigen Destruktion der »Historia sacra« als historischer Quelle, auf die auch die Forschungen zur »gallischen« Vergangenheit im 18. und frühen 19. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise bezogen waren. Erst seit dem 20. Jahrhundert, mit der Einordnung des Menschen in den Zeithorizont der Geschichte der Natur, überwölbt die im 19. Jahrhundert auf unterschiedliche historische Disziplinen mit unterschiedlichen Zeitregimen, Fragestellungen und Beweisführungen aufgeteilte Vergangenheitsforschung wieder ein gemeinsames Geschichtsbild, etablierten sich auch in der engeren Geschichtswissenschaft schriftlose Zeugnisse und damit verbundene Methoden der Beweisführung.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Helmut Zedelmaier, Rezension von/compte rendu de: Lisa Regazzoni, Geschichtsdinge. Gallische Vergangenheit und französische Geschichtsforschung im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2020, XVI–508 S., 42 Abb. (Cultures and Practices of Knowledge in History, 5), ISBN 978-3-11-067449-1, EUR 94,95., in: Francia-Recensio 2022/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2022.3.90530